Das Zwischenurteil
Erwartungsgemäß war das Urteil des Weltgerichtes ein politisches. Es hatte nicht gewagt, das Wort Waffenstillstand zu verwenden, aber es war ansonsten ein eindeutiges vorläufiges Urteil gegen das noch so starke Imperium der westlichen Kolonialstaaten und die USA. Craig Murray erklärt, warum das Votum des Gerichtes für Israel vernichtend ist. Und gerade als ob der Westen zeigen wollte, wie unwichtig das Urteil sei, stoppt er die humanitären Hilfen über die UNO, weil angeblich 12 von tausenden Mitarbeitern mit der Hamas kooperiert hatten, oder mehr mit Hamas in Kontakt waren, was angesichts der Verwaltung von Gaza durch die Hamas unvermeidbar ist.
Selbst wenn in ein oder zwei Jahren Israel wegen Völkermord endgültig verurteilt wird, ist es irrelevant für die bis dahin geschaffenen Fakten, also Tote, Verstümmelte, Traumatisierte, zerstörte Wohnungen und Besiedlung durch israelische Siedler. Und so wird das Gericht keinerlei Einfluss auf die Verbrechen haben. Diese Art der Politik ist die Fortsetzung von Aktionen, Handlungen, und Erschaffung von medialen Realitäten, die lange vorher, auch schon vor und während 1948 zu beobachten waren. Um das zu verdeutlichen will ich die Analyse eines Historikers zur Nakba, also der ersten großen Vertreibung von Palästinensern durch Israel, heranziehen. Eine Beschreibung, die diametral den Geschichten entgegenstehen, welche Vertreter aller politischen Parteien am 17. Mai 2019 im Bundestag verkündeten. Beginnen wir also mit einem Rückblick auf die Gründung Israels.
Wie alles begann
Tatsächlich sehen diejenigen, welche sehen wollen, dass sich auch nach über 75 Jahren nichts am Verhalten der alten Kolonialländer hinsichtlich der Verbrechen Israels geändert hat. Was wir heute in Gaza sehen ist lediglich die konsequente Weiterverfolgung einer Politik, die schon vor der Staatsgründung Israels begonnen hatte.
Der israelische Historiker Ilan Pappe beschreibt in seinem Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“, wie alles begann. Schon im Vorwort liest man:
„In diesem Gebäude saßen am 10. März 1948, einem kalten Mittwochnachmittag, elf Männer zusammen – altgediente zionistische Führer und junge jüdische Offiziere – und legten letzte Hand an einen Plan für die ethnische Säuberung Palästinas. Noch am selben Abend ergingen militärische Befehle an die Einheiten vor Ort, die systematische Vertreibung der Palästinenser aus weiten Teilen des Landes vorzubereiten. Die Befehle gaben detailliert die Einsatzmethoden zur Zwangsräumung vor: groß angelegte Einschüchterungen; Niederbrennen der Häuser mit allem Hab und Gut; Vertreibung; Abriss und schließlich Verminung der Trümmer, um eine Rückkehr der vertriebenen Bewohner zu verhindern. Jede Einheit erhielt eine Liste mit Dörfern und Stadtvierteln, den Zielen dieses Masterplans. Er trug den Codenamen Plan D (Dalet in Hebräisch) und war die vierte und endgültige Version vorausgegangener Planungen für das Schicksal, das die Zionisten für Palästina und seine heimische Bevölkerung vorsahen.“[1]
Wenn man nur ein Mindestmaß an Menschlichkeit empfindet, kann man dieses Buch wohl immer nur in kleinen Häppchen lesen. Die Grausamkeit der israelischen Politik ist ansonsten zu überwältigend.
„In dieser Phase, die mit mehreren Massakern einherging – vor allem mit dem Massaker von Deir Yassin – wurden etwa 250.000 Palästinenser entwurzelt.“ [2]
Erst angesichts dieser Verbrechen zionistischer Milizen beschloss die Arabische Liga militärisch einzugreifen, allerdings ohne eine wirklich entschlossene und starke Militärmacht aufzubieten, und erst nachdem das britische Mandat beendet worden war, was viel zu spät war, um die Pläne der Zionisten noch zu verhindern.
Pappe kritisiert auch die Geschichtsschreibung durch koloniale Historiker, wie Benny Morris, der sich ausschließlich auf israelische Dokumente gestützt hatte.
„So konnte er von Juden begangene Gräueltaten ignorieren, wie das Vergiften der Wasserversorgung von Akko (Acre) mit Typhus, zahlreiche Fälle von Vergewaltigung und Dutzende Massaker. Außerdem beharrte er – zu Unrecht – darauf, dass es vor dem 15. Mai 1948 keine Zwangsräumungen gegeben habe. Palästinensische Quellen belegen eindeutig, dass es jüdischen Truppen schon Monate vor dem Einmarsch arabischer Truppen in Palästina, während die Briten noch für Recht und Ordnung im Land zuständig waren – nämlich vor dem 15. Mai -, gelungen war, nahezu eine Viertelmillion Palästinenser zwangsweise zu vertreiben.“[3]
Und so finden sich immer Mainstream-Historiker, welche die passenden Narrative für die Politik schreiben, die dann behaupten kann, dass es doch so war, wie von diesen, dann meist noch mit Ehren überhäuften, beschrieben.
Das ist nur der Beginn des Buches voller Enthüllungen westlicher Lügen und Schutzbehauptungen, mit denen bereits zu Beginn der Machtergreifung der Zionisten in Palästina über 700.000 Menschen vertrieben, ermordet und traumatisiert wurden, mit denen das letzte koloniale Projekt des Westens, die siedlerkoloniale Bewegung Israel, mit einem Nebel überdeckt wird, der immer wieder etwas von einem „Existenzrecht“ erzählt
Eines der großen Narrative in diesem Zusammenhang ist die Behauptung, dass Palästinenser per se voller Hass auf jüdische Menschen seien, ihre Kinder schon zum Antisemitismus erzögen, obwohl die ersten Siedler mit offenen Armen aufgenommen worden waren. Und obwohl der Hass innerhalb der israelischen Gesellschaft auf die „minderwertige Rasse“ der Araber und der Palästinenser im Besonderen, nur mit schlimmsten Zuständen in der Geschichte der Menschheit verglichen werden kann. Wie unzählige Aussagen bezeugen, von denen nur eine winzige Auswahl hier zu nennen sei. Manche Aussagen sind so unglaublich, dass man die Links besuchen sollte, um nicht ins Zweifeln zu kommen.
Israelische Kinder singen Lieder gegen Palästinenser „Möge dein Dorf abbrennen“.[4]
Schulbücher, die voller Hass auf Palästinenser sind.[5]
Israels Minister für Kulturerbe fordert (erneut) den Abwurf einer Atombombe auf Gaza und prahlt, dass der Internationale Gerichtshof seine Absichten kenne! Dieses formelle Eingeständnis der israelischen Atomwaffen ist nicht nur ein Völkermord, sondern macht auch die US-Hilfe für Israel nach dem Symington Amendment von 1976 illegal. [6]
Israel möchte die Palästinenser immer zweimal töten- so tief sitzt der Hass! Wie das Land palästinensische Friedhöfe schändet, ein Bericht von CNN[7].
Die Familie des 30-jährigen Farouq Issa sagt, er sei von israelischen Streitkräften verhaftet und als gesunder junger Mann in Verwaltungshaft genommen worden. Doch vier Monate später war er wie ein Schatten seiner selbst und die Ärzte sagen, er habe nur noch wenige Tage zu leben.[8]
Ein israelischer Fernsehmoderator scherzt, er könne nicht schlafen, wenn er nicht sehe, wie im Gazastreifen palästinensische Häuser zerstört werden. Seine Gäste lachen mit ihm. Genozid wird zum Mainstream.[9]
Ein Bericht über den israelischen Rassismus mit unglaublichen aber entlarvenden Bildern.[10]
Gerade aus der Schuluniform in die Militärunform umgezogene männliche und weibliche Israelischen Soldaten foltern alte Palästinenser und lassen Hunde auf sie urinieren.[11]
Politikerin fordert, Gaza hungern und dursten zu lassen, jedwede humanitäre Hilfe zu behindern.[12]
Der Journalist Zvi Yehezkeli wiederholt immer wieder, dass beim ersten Schlag 100.000 Menschen getötet werden sollten und dass jeder einzelne der 2 Millionen Einwohner Gazas mit der Hamas in Verbindung steht. Dies ist ein Aufruf zum Völkermord und Yehezkeli ist derzeit der beliebteste Redner in den israelischen Medien.[13]
Israels linker Held und „Friedensikone“, General Yair Golan, spricht sich hier offen dafür aus, die Bewohner des Gazastreifens auszuhungern: „Wir sollten ihnen sagen: Hört zu, bis sie von unserer Seite aus freigelassen werden, werdet ihr verhungern. Das ist VÖLLIG RECHTMÄSSIG.“[14]
Israel hat vier schwangere Frauen erschossen, die auf dem Weg zum Al-Awda-Krankenhaus weiße Fahnen hissten, sie wurden von Bulldozern der IDF überrollt! Sie wurden über zwei Wochen lang in einem von Israel besetzten Gebiet in der Sonne verrotten gelassen. Dutzende verwesende und verstümmelte Leichen wurden heute in Tal al-Zaatar entdeckt.[15]
Israel hält Tausende von Gaza-Bewohnern im „Konzentrationslager“ Sde Teiman (wie es einige Israelis nennen) gefangen. In Käfige gesteckt, ausgehungert, gefesselt, mit verbundenen Augen, gefoltert, so ein IDF-Soldat, der eine erschütternde Aussage machte. Mehrere Gefangene starben.[16]
Das ist nur eine winzige Auswahl, zufällig gefunden im Januar 2024. Tausende folgten, und noch schrecklichere als diese.
Wie behaupteten Mitglieder des deutschen Bundestages doch gleich sinngemäß: „Wer Israel als koloniales Projekt bezeichnet ist Antisemit“. In dem erwähnten Buch von Pappe liest man auf Seite 27 auch, wie lange schon das koloniale Projekt Israel geplant war.
„Einer der liberalsten Denker der Bewegung, Leo Motzkin, schrieb 1917: ‚Nach unseren Vorstellungen muss die Kolonisierung Palästinas in zwei Richtungen erfolgen: Jüdische Ansiedlung in Eretz Israel und Umsiedlung der Araber aus Eretz Israel in Gebiete außerhalb des Landes. Die Umsiedlung so vieler Araber mag zunächst wirtschaftlich unvertretbar erscheinen, ist aber dennoch machbar. Es erfordert nicht allzu viel Geld, ein palästinensisches Dorf auf anderem Land neu anzusiedeln.“[17]
Was Motzkin noch nicht wissen konnte: Israel muss gar nichts für die Vertreibung bezahlen. Die Bomben werden von den USA gespendet und die Hilfeleistungen für Flüchtlinge ihrer Politik und Neuansiedlungen durch die Weltgemeinschaft finanziert.
Die Nakba von 1948 geht bis heute weiter. Aber zwischen 1948 und 2024, dem Völkermord in Gaza liegen dutzende Meilensteine. Pappe erwähnt in seinem Buch eine ganze Reihe davon, wem das nicht genügt, der kann noch mehr in meinem Buch auf über 800 Seiten lesen, das Käufer dieses Buches auf Anforderung kostenlos downloaden können.
Aber jetzt kommen wir zum Zwischenurteil des IGH von Ende Januar 2024.
Das Urteil
Craig Murray, über dessen Beobachtungen des Verfahrens vor dem IGH ich bereits berichtete, nahm natürlich auch zu dem vorläufigen Votum des Gerichts Stellung[18].
Er erklärt, dass der IGH ganz eindeutig das Argument Israels, nämlich in Selbstverteidigung zu handeln, ablehnte, obwohl dies die Hälfte der israelischen Schriftsätze dominiert hatte. Das Gericht stellte nicht nur fest, dass ein plausibler Fall von Völkermord vorliegt, sondern erwähnte die Selbstverteidigung in seinem Zwischenurteil nur ein einziges Mal – und das auch nur, um darauf hinzuweisen, dass Israel sich darauf berufen hatte. Dass der IGH das Recht Israels auf Selbstverteidigung nicht bestätigt, sei vielleicht der wichtigste Punkt in dieser Zwischenverfügung. Das Argument, das jeder westliche Staatschef verwendet, sei vom IGH zurückgewiesen worden, indem es einfach ignoriert wurde.
„Was mir an der Entscheidung des IGH am meisten auffiel, war, dass der Beschluss viel detaillierter auf die Beweise für den Völkermord einging, als es nötig gewesen wäre. Die Beschreibung war eindeutig.“[19]
Dabei verweist Murray auf Paragraf 46. Der Grund, warum dies so entscheidend ist, sei, dass der Gerichtshof nicht sagt, dass Südafrika dies behauptet. Der Gerichtshof sage, dass dies die Fakten sind. Es ist eine Tatsachenfeststellung des Gerichtshofs. Für Murray ist das von alleräußerster Wichtigkeit. Der Gerichtshof gehe dann auf die Darstellungen der Vereinten Nationen über die tatsächliche Situation ein und zitiert ausführlich drei verschiedene hochrangige Beamte, darunter Philippe Lazzarini, Generalkommissar des UNRWA.
Ich hatte ja schon geschrieben, dass die westlichen Mächte zum großen Teil die humanitäre Hilfe für Gaza eingestellt hatten, weil nach israelischen Angaben, angeblich einige Mitarbeiter der UN mit der Hamas kooperiert hätten. Später sollte sich herausstellen, dass Mitarbeiter gefoltert worden waren, um diese Aussagen zu machen, und Fotos, die als Beweise vorgelegt wurden, zeigten Polizisten der Verwaltungsbehörde der Hamas, mit denen Hilfswerke zusammenarbeiten mussten, um überhaupt Hilfe leisten zu können.
Und so erklärte Murray schon Ende Januar, warum die unmittelbare Reaktion auf das IGH-Urteil ein koordinierter Angriff Israels und der vereinigten imperialistischen Mächte auf das UNRWA war, ein Angriff, der darauf abzielte, den Völkermord durch die Einstellung der Hilfe zu beschleunigen, eine propagandistische Gegenerzählung zum IGH-Urteil zu liefern und die Glaubwürdigkeit der Beweise des UNRWA vor dem Gericht zu verringern.
Der Gerichtshof arbeite sehr eng mit der UNO zusammen und sei ein fester Bestandteil des UN-Systems. Eine besonders enge Beziehung bestehe zur UN-Generalversammlung – viele Fälle des Gerichtshofs gingen auf Ersuchen der UN-Generalversammlung zurück. In zwei Wochen werde der Gerichtshof auf Ersuchen der UN-Generalversammlung mit seinen Anhörungen zur Rechtslage in den besetzten Gebieten Palästinas beginnen.
Der Beschluss, so Murray weiter, enthalte fünf spezifische Verweise auf die UNGA. Daraus müsse man schließen, dass die Kolonialländer und Israel der UN-Generalversammlung im Voraus die Legitimität absprechen wollten, ein verbindliches Votum gegen Israel zu beschließen, oder dieses zumindest als „umstritten“ darzustellen, um sich nicht daran halten zu müssen.
Der Gerichtshof habe viel Zeit damit verbracht, die Fakten des sich entwickelnden Völkermords im Gaza-Streifen zu erläutern. Er hätte dies nicht so detailliert tun müssen, dem sei viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden, meint Murray, und erklärt weiter, dass er überrascht war, wie ausführlich das Gericht auf die Beweise für die völkermörderische Absicht Israels einging. Es sei besonders demütigend für Israel, dass der Gerichtshof das israelische Staatsoberhaupt, den Präsidenten Israels selbst, zitiert habe, der zusammen mit zwei anderen Regierungsministern eindeutige Beweise für eine völkermörderische Absicht lieferte!
Auch hier sagt der Gerichtshof nicht, dass Südafrika dies behauptet hätte, sondern formulierte es als eine Tatsachenfeststellung des Gerichtshofs. Der IGH habe daher bereits Israels Leugnung der Aufstachelung zum Völkermord vor Gericht für unwahr befunden. Dann stellt Murray fest:
„Gleich am nächsten Tag, nachdem Präsident Herzog eine völkermörderische Äußerung gemacht hatte, wie vom Internationalen Gerichtshof festgestellt, wurde er von Ursula von der Leyen, der Präsidentin der Europäischen Kommission, und Roberta Metsola, der Präsidentin des Europäischen Parlaments, empfangen und ihm ‚volle Unterstützung‘ angeboten.“[20]
Wenn man sich im Detail anschaue, was der Gerichtshof als tatsächliche Tatsachen in Bezug auf Tod, Zerstörung und Vorsatz feststellte, so hatte Murray keinen Zweifel daran, dass dieses Gericht Israel des Völkermordes für schuldig befinden wird, sobald der eigentliche Fall vor den Gerichtshof kommt. Alle Argumente Israels seien fallen gelassen worden. Die erheblichen Anstrengungen, die Israel unternommen habe, um den Fall aus verfahrensrechtlichen Gründen abweisen zu lassen, wurden beiseite geschoben. Das Gleiche gelte, wie erklärt, für die Selbstverteidigung. Und in seiner Tatsachenfeststellung habe der Gerichtshof eindeutig festgestellt, dass die israelischen Lügen über die Vermeidung von Opfern unter der Zivilbevölkerung, die Verantwortung der Hamas für die Schäden an der Infrastruktur und den Zugang von Hilfsgütern nach Gaza unwahr sind.
Murray meint, auch wenn das Wort „Waffenstillstand“ in dem Gerichtsbeschluss fehle, komme die Aussage des Gerichts dem sehr nahe. Es habe das israelische Militär ausdrücklich angewiesen, das Töten von Palästinensern einzustellen. Das sei absolut klar. Es könnte keinen deutlicheren Hinweis darauf geben, dass der Gerichtshof der Ansicht ist, dass Israel die Konvention derzeit nicht befolgt.
Was wurde als Reaktion im Januar erwartet?
Murray definierte die Erwartungen wie folgt:
„Nun, Israel hat mit der Tötung von über 180 palästinensischen Zivilisten seit der Anordnung des Internationalen Gerichtshofs reagiert. Wenn das so weitergeht, könnte Südafrika den Gerichtshof erneut um dringendere Maßnahmen ersuchen, noch bevor der angeordnete Monatsbericht Israels fällig ist. Algerien hat angekündigt, dass es die Anordnung vor den UN-Sicherheitsrat bringen wird, um sie durchzusetzen. Ich bezweifle, dass die Vereinigten Staaten ihr Veto einlegen werden. Die Reaktion Israels und seiner Unterstützer auf den IGH-Beschluss ist schizophren.“[21]
Es sei schwierig, so Murray weiter, einerseits zu behaupten, dass Israel irgendwie gewonnen habe, und andererseits zu versuchen, die Durchsetzung der Anordnung des UN-Sicherheitsrates zu blockieren. Sein Verdacht war, dass die Doppelstrategie fortgesetzt werde, nämlich so zu tun, als gäbe es keinen Völkermord und als würde Israel die “unnötige” Anordnung befolgen, und gleichzeitig den IGH und die UNO im Allgemeinen angreifen und lächerlich machen.
Murray meint, die unmittelbare Reaktion der USA und ihrer Verbündeten auf den Erlass sei der Versuch, den Völkermord zu beschleunigen, indem sie die Hilfsmaßnahmen der UNO lähmten. Und schrieb, dass er „so etwas Bösartiges und Unverfrorenes nicht erwartet“ habe.
Er wies dann schon im Januar darauf hin, dass das Urteil den Gerichten in allen Ländern die Möglichkeit gebe, gegen diesen Völkermord vorzugehen. In den USA seien in Kalifornien bereits Anhörungen zu einer gegen Joe Biden eingereichten Klage wegen Beihilfe zum Völkermord begonnen worden. Leider ginge natürlich alles viel zu langsam. Murray hoffte, dass die Generalversammlung der UN Israel aus der Gemeinschaft ausschließen werde. „Das kann den gestern Abend getöteten und verstümmelten Kindern und denen, die in den nächsten Tagen sterben werden, nicht helfen. Aber es ist ein Hoffnungsschimmer am Horizont.“[22]
Die Reaktion Israels
Kaum hatte das Weltgericht also Israel „gebeten“, doch bitte etwas Mäßigung bei der Zerstörung Gazas und bei der Tötung und Verkrüppelung von bald 100.000 Menschen walten zu lassen, da kommt die nächste Idee Israels, wie man die Menschen aushungern und an Seuchen sterben lassen kann. Die Erzählung, dass UN-Mitarbeiter eine von der UN zum bewaffneten Widerstand gegen die Besatzung Israels legitimierte Widerstandsbewegung, aber im Westen als Terrororganisation gelisteten Gruppe geholfen haben, wurden immer wieder aufgewärmt. Eine Behauptung, die von westlichen Medien sofort als gegeben akzeptiert wurden. Obwohl die FalseFlag und Lügen der israelischen Regierung in den letzten Jahrzehnten nicht mehr gezählt werden können. Nachgelegt wurde z.B. eine Analyse der Metadaten der Mobiltelefone durch den Mossad, nach dem ein gewisser Prozentsatz der UN-Mitarbeiter angeblich sogar per Mobiltelefon Kontakt zu Hamas Stellen gehabt haben soll. Gerade so, als ob eine Arbeit der UNO ohne Kontakt zu der lokalen Verwaltung der Region möglich wäre.
Dann hatten zur Strafe also erste westliche Länder ihre Hilfszahlungen an dieses UN-Hilfswerk eingestellt. Was bedeutete, dass Israel gar nicht mehr zu bombardieren brauchte, sondern abwarten konnte, bis die überlebenden Palästinenser verhungern, an Seuchen oder Erkrankungen starben. Denn, gut zu wissen, muss man zynisch erklären, dass inzwischen der überwiegende Teil der Krankenhäuser alle als „Hamas Basen“ „enttarnt“ und zerstört worden waren und immer wieder Hilfeleistungen durch militante Zionisten behindert, zerstört oder blockiert werden. Dabei waren schon vor dem 7. Oktober die Hilfeleistungen kaum ausreichend, um die Not in Gaza zu lindern.
Das Ende der Menschlichkeit
Die Tatsache des Ignorierens des Völkermordes in Gaza durch den kollektiven imperialistischen Westen markiert das Ende der Menschlichkeit, meint auch Hajo Meyer, ein Holocaust-Überlebender und Arzt:
„In Auschwitz habe ich gesehen, dass, wenn eine herrschende Gruppe andere entmenschlichen will, so wie die Nazis mich entmenschlicht haben, die herrschende Gruppe sich zuerst selbst entmenschlichen muss, und dasselbe gilt heute für Israel. Ich bin entsetzt, wie hasserfüllt, wie entmenschlicht sie sind, dass sie in keinem Palästinenser mehr etwas Menschliches sehen. Die Zionisten haben kein Recht, den Holocaust für irgendwelche Zwecke zu missbrauchen, sie haben alles aufgegeben, was mit Menschlichkeit und Empathie zu tun hat.“[23]
Was Meyer über Israel sagte, gilt für mich und mein Land, Deutschland in ähnlicher Weise. Während Israel den Holocaust missbraucht, um eigene Gräueltaten zu rechtfertigen, missbrauchen die Politiker Deutschlands die Verbrechen unserer Väter im Holocaust, um die Führungsrolle als Vasall der USA zu verteidigen und den Ablassbrief für nationalsozialistische Verbrechen durch die rechtsradikale Regierung Israels zu erhalten.
Die bisher aber kaum beachtete Folge könnte sein, dass nun Menschen, welche so lange daran glaubten, dass der Westen Kriege „für Demokratie und Menschenrechte“ führt, endlich anfangen, nachdenklich zu werden. Denn das Verfahren vor dem IGH zeigt nun deutlich auf, dass Länder des Wertewestens sich keineswegs a priori in ihrer Politik von Menschenrechten, Menschenleben oder Demokratie leiten lassen. Sondern nur dann, wenn diese als Vorwand für die Durchsetzung eigener Interessen benutzt werden können.
Aber noch eine weitere Folge könnte aus dem Verfahren gegen Israel resultieren. Nämlich die Erkenntnis, dass wenn diese Massenmorde, Verstümmelungen, Vertreibungen durch den Wertewesten bzw. Deutschland unterstützt werden: wer kann dann schon sicher sein, dass andere Verbrechen ungeheuren Ausmaßes gegen die Menschlichkeit nicht auch unterstützt oder wenigstens geduldet werden? Welche Verbrechen werden von diesem Wertewesten derzeit gerade noch verübt oder gedeckt?
Andrew Korybko schreibt[24] über das Vorgehen des IGH:
„Unschuldige Menschen leiden manchmal vor den Augen der Weltöffentlichkeit, während ihre Peiniger der Strafe für ihre Verbrechen entgehen. Das liegt daran, dass die Hauptakteure berechnen, dass die Kosten eines Eingreifens den greifbaren Nutzen für ihre Interessen bei weitem überwiegen. So funktioniert die Welt nun einmal, und jeder sollte sich dieser Realität bewusst sein.“[25]
Wollen wir uns wirklich damit pragmatisch abfinden, da „alternativlos“?
Verstörend
Was mich Ende Januar besonders verstörte war die Tatsache, wie viele Menschen in Deutschland ganz offensichtlich noch für koloniale und rassistische Denkmuster zu begeistern sind und sich nun ganz offen dazu bekennen. Wie anders kann man Menschen beschreiben, welche die Nichtzahlung von Hilfsgeldern für die Opfer in Gaza fordern? Es scheint, als ob Palästinenser keine Menschen wären, auf die Menschenrechte anzuwenden wären. Es ist verstörend.
Und nachdem die westliche politische Elite nun das quasi-Urteil des IGH ignorierte, und versuchte die UNO ins Lächerliche zu ziehen, bzw. als „Terrorunterstützer“ darzustellen, bestand natürlich die Gefahr, dass der Völkermord in Gaza auf die Westbank ausgeweitet wird. Elijah Magnier, ein erfahrener Journalist, der seit vielen Jahren über die Region berichtet, erklärte, dass Netanjahu die Palästinenser immer stärker quäle, anscheinend um einen Aufstand zu provozieren, damit dann, wie in Gaza, „tabula rasa“ gemacht werden könne. Vor allen Dingen aber, um endgültig einen palästinensischen Staat zu verhindern. Wie Matt Shuham in der Huffington Post schon am 18. Dezember letzten Jahres schrieb:
„Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu sagte am Samstag, er sei ‚stolz‘, die Gründung eines palästinensischen Staates verhindert zu haben“.[26]
Erkenntnisse
Nichts hatte sich Ende Januar 2024 verändert gegenüber dem dunklen Mittelalter, wenn es darum ging, wie Menschen andere Menschen unterjochen, beherrschen, vertreiben und ermorden. Aber wer durch Gaza immer noch nicht die Perfidität der westlichen Indoktrination „Wir sind die Guten und bekämpfen nur die Bösen“ und „Israel verteidigt sich nur gegen Terroristen“ als die vielleicht größte Nachkriegs-Heuchelei begriffen hatte, der wird hoffentlich durch dieses Buch zum Nachdenken angeregt.
Es erscheint regelrecht perfide, dass deutsche Politiker immer wieder von „Israel verteidigt sich nur“ reden, obwohl der Internationale Gerichtshof schon 2004 erklärte, dass eine Besatzungsmacht KEIN Recht auf Selbstverteidigung habe[27].
Möglicherweise wird die Änderung innerhalb der jüdischen Gemeinde entstehen, wenn durch die Reproduktionsunterschiede antizionistische orthodoxe Juden in wenigen Jahrzehnten die Mehrheit stellen und gemeinsam mit dem Kreis der liberalen Juden die menschenverachtende rassistische, nationalistische zionistische Politik endlich beenden.
Während im kollektiven Westen die Indoktrination schon in der Schule „Wir sind die Guten, kämpfen gegen das Böse in der Welt“, eine Generation erzeugt, die wohl wieder erst durch einen katastrophalen Krieg auf den Boden der echten Realität gebracht werden wird.
[1]https://www.huffpost.com/entry/benjamin-netanyahu-prevented-palestinian-state-two-state-solution_n_6580a368e4b0e142c0bed60b
[2]Ebd.
[3]Ebd.
[17]https://www.huffpost.com/entry/benjamin-netanyahu-prevented-palestinian-state-two-state-solution_n_6580a368e4b0e142c0bed60b
[18]https://www.craigmurray.org.uk/archives/2024/01/has-international-law-survived-or-has-the-western-political-class-killed-it/
[19]Ebd.
[20]Ebd.
[21]Ebd.
[22] Ebd.
[25]Ebd.