Nakba
Carlos Latuff ist der Meinung, dass die Nakba, auf Deutsch »Katastrophe« oder »Unglück« von 1948 immer noch weitergeht. Nakba beschreibt die Vertreibung von 700.000 Palästinensern und Ermordung einer unbekannten Zahl aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina. Die Nakba folgte einem Angriffskrieg Israels, welche die militärischen Fähigkeiten von sechs arabischen Staaten vernichtete, diesich nicht mit der einseitigen Gründung des Staates Israel abfinden wollten. Israel dagegen erklärt, es habe sich nur gegen drohende Angriffe dieser Staaten gewehrt.
Marion Kawas kommentierte am 20. Mai 2021 dazu:
»Palästinensische Aktivisten in der Diaspora und ihre Unterstützer setzen sich seit Jahrzehnten dafür ein, die Botschaft Palästinas in die internationale Gemeinschaft zu tragen. Wir standen 1982 auf denselben Straßen und Plätzen, auf denen wir uns jetzt versammeln, um die Massaker von Sabra und Schatila zu verurteilen. Wir standen 2002, als Israel in palästinensische Städte im besetzten Westjordanland einmarschierte. Wir standen 2014, als Israel den Gazastreifen verwüstete und Tausende von Toten, darunter viele Zivilisten, hinterließ. Wir standen 2018 während des Großen Rückkehrmarsches, als israelische Scharfschützen wie zum Spaß auf Demonstranten in Gaza schossen.«24
Und jetzt, so die Autorin, stünden sie wieder hier, mit der Hoffnung, dass es diesmal anders sein wird. Dass es dieses Mal eine qualitative Veränderung gibt. Dass die Welt dieses Mal nicht einfach zur Tagesordnung übergeht, wenn die unmittelbare Krise vorüber ist. Und es gebe Anzeichen dafür, dass ein solcher Wandel bereits im Gange ist, da die weltweite Unterstützung für Palästina von Tag zu Tag wachse und die Barriere der zionistischen Lobbykontrolle durchbrochen werde.
Und das sei längst überfällig, meint sie, denn die Palästinenser stünden kurz davor die Geduld zu verlieren. Sie seien es leid, immer dieselben endlosen Fragen zu beantworten und ihr Recht auf Widerstand gegen eine so grausame siedler-koloniale Unterdrückung rechtfertigen zu müssen. Sie seien es leid, sich von wohlmeinenden, aber fehlgeleiteten Stimmen belehren zu lassen, wie sie ihren Kampf führen sollen und welche Taktiken akzeptabel sind.
Sie berichtete, dass die Menschen die Botschaft westlicher Regierungen satt haben, dass israelische Staatsgewalt geduldet wird, nicht aber der Widerstand des Volkes, dass Palästinenser kein Recht auf Selbstverteidigung haben, es sei denn, es wird ihnen von den kolonialistischen Kräften übertragen, und dass die Sicherheit Israels über allen anderen Erwägungen steht.
Diese Erwartungen vermittelten auch die Botschaft, dass andere den Palästinensern diktieren können, welche Form des Widerstands ihren Bedürfnissen zu einem bestimmten Zeitpunkt am besten entspricht. Dabei haben Palästinenser der Welt viel über Kampagnen des zivilen Ungehorsams beigebracht, vom sechsmonatigen Generalstreik im Jahr 1936 (einem der längsten in der Weltgeschichte) über den Steuerstreik in Beit Sahour während der ersten Intifada bis hin zum Großen Rückkehrmarsch. Aber es sei ihre kollektive und volksnahe Entscheidung, wann sie bewaffneten Widerstand gegen eine ausländische militärische Besatzung leisten, ein Recht, das nach internationalem Recht anerkannt ist und auch unter vielen anderen Umständen gewürdigt werde.
21 https://mondoweiss.net/2021/05/continuing-nakba-continuing-resistance/
»Ich werde nie einen Vorfall vergessen, der sich vor 20 Jahren in einer Kirche in der Gegend von Vancouver ereignete. An der Wand befand sich ein inspirierendes Wandgemälde, das bewaffnete Kämpferinnen im Widerstand gegen die Nazis im 2. Weltkrieg zeigt. Die Ironie des Schicksals war, dass ich in derselben Kirche an einer Versammlung teilnahm, in der die Notwendigkeit (und sogar die Vorteile) von Palästinensern, die sich nur der ‚Gewaltlosigkeit‘ verschrieben haben, dargelegt wurde. Leider sahen sie keinen Widerspruch zwischen dem Gemälde und den Aussagen.
Viele Befreiungsbewegungen wurden von verschiedenen Unterdrückern und imperialistischen Kräften als ‚terroristisch‘ eingestuft, von Südafrika bis Algerien. Oft werden Parallelen zwischen dem Anti-Apartheid-Kampf in Südafrika und der palästinensischen Erfahrung gezogen, sowohl im Hinblick auf die institutionelle Funktionsweise der Apartheidherrschaft als auch auf die Dämonisierung des Widerstands.«25
Angesichts der Tatsache, dass israelische Soldaten und Siedler in Jerusalem wüten, dass an den israelischen Kontrollpunkten eine »Schießbefehl«-Politik betrieben wird, die zur Ermordung vieler Palästinenser geführt hat, und dass ein weiterer räuberischer Angriff auf den Gazastreifen zum Zeitpunkt im Gange ist, da sie ihren Artikel veröffentlichte, sei es nicht die Aufgabe der Unterstützer in Kanada oder den USA, den Palästinensern zu sagen, wie sie am besten Widerstand leisten sollen. Stattdessen sollten sie den legendären palästinensischen Kampf gegen die zionistische Kolonisierung würdigen, der seit fast einem Jahrhundert andauert. Solidaritätsgruppen können je nach den örtlichen Gegebenheiten entscheiden, welche spezifischen Kampagnen sie fördern und hervorheben wollen, aber es sei nicht ihre Aufgabe, den palästinensischen Kampf zu »säubern«, um westliche Vorurteile zu beschwichtigen.
»Es ist der hartnäckige Widerstand des palästinensischen Volkes und seine Weigerung, sich dem zionistischen Siedler-Kolonialismus-Projekt zu beugen, der uns so weit gebracht hat. Es ist der palästinensische Geist von sumoud, der – wenn auch 72 Jahre später – die Berichte von B‘tselem und Human Rights Watch hervorgebracht hat, die nun anerkennen, dass Israel ein Apartheidstaat ist. Dies ist die Botschaft von Nakba73 für die Zukunft: So wie die Nakba weitergeht, wird auch der palästinensische Widerstand weitergehen. Es kann und wird niemals eine Koexistenz mit Apartheid und Siedlerkolonialismus geben.«26
Man beachte, dass der Widerstand sich nicht gegen »Juden« richtet, sondern gegen»Apartheid« und »Siedlerkolonialismus«. Die Nakba kam in meinem Bewusstsein, also in dem von Andrea Drescher, sehr sehr lange Zeit nicht vor. Die Geschichte vom »leeren, unbesiedelten Land«, das von
22 https://mondoweiss.net/2021/05/continuing-nakba-continuing-resistance/
23 https://mondoweiss.net/2021/05/continuing-nakba-continuing-resistance/
heroischen Zionisten urbar gemacht wurde, hat lange Zeit auch meine Sicht der Welt geprägt. Eine Reise Anfang der 80er Jahre bestätigte dieses Bild. Auf einem Berg stehend, sah ich das grüne Israel, und in der anderen Richtung das Westjordanland, wo unbepflanzte braune Erde zu sehen war. Das deckte sich mit dem Narrativ, das erfolgreich aufrechterhalten wurde und wird.