Das Verfahren vor dem IGH
Es sind viele Verbrechen der Menschlichkeit in den letzten Jahrzehnten begangen worden, und viele davon ausgelöst durch so genannte „Demokratien“, mit ihren Angriffskriegen und ihrem Kreuzzug für „Demokratie und Freiheit“. Das ganze kulminierte nun in dem Massaker Israels in Gaza, und damit ist spätestens der Punkt erreicht worden, in dem es für die alten westlichen imperialen Mächte unmöglich ist, die Meinungsführerschaft in der Welt durchzusetzen.
Im Januar 2024 war abzusehen, dass der mögliche Genozid in Gaza durch Israel noch vervollständigt wird, aber das zuzulassen wird nicht nur das Apartheid-Regime in Israel im Laufe der nächsten Jahrzehnte von innen heraus zerstören, wie bereits von Chris Hedges vorausgesagt. Sondern das ganze westliche Konstrukt der Dominanz und des „teile und herrsche“ wird zerstört werden. Zunächst stand aber ein Urteil des Weltgerichtshofes ICJ an.
Das Weltgericht
Am Donnerstag den 11. Januar 2024 sollte die Anhörung Südafrikas bezüglich seiner Klage gegen Israel wegen eines Völkermordes in Gaza beginnen. Erwartungsgemäß wird der Kläger kurz den Inhalt seiner über 80-seitigen Klageschrift erklären und dann die aktuellen Erkenntnisse seit Einreichung der Klage nachlegen. Israel, so hört man[1], werde am darauffolgenden Freitag seine Antwort auf der Behauptung aufbauen, dass die israelischen Führer, welche die völkermörderischen Äußerungen gemacht hatten, diese „nicht wirklich so gemeint haben“. Und man will möglichst viele westliche Regierungen als Beweis anführen, diese sollen Israels „humanitäre Bemühungen“ in Gaza loben. Und man will anscheinend ein Propaganda-Video über die „Gräueltaten der Hamas“ vorführen.
Francis Boyle war der erste Anwalt, der unter der UN-Völkermord-Konvention, seit seiner Vereinbarung im Jahr 1921, einen Fall vor dem ICJ, also dem Internationalen Gerichtshof der UNO, dem höchsten Weltgericht, gewann. Er hatte zwei Fälle für die Republik Bosnien und Herzegowina gegen Jugoslawien erfolgreich erstritten. Allerdings muss man einschränken, dass diese Fälle die Unterstützung der USA hatten. Basierend auf seiner Erfahrung hat er die Dokumente geprüft, welche von Südafrika bei dem Gericht im Fall des Völkermordes durch Israel in Gaza eingereicht worden waren. In einem Interview mit @democracynow erklärt der Anwalt dazu Folgendes:
„Basierend auf meiner sorgfältigen Prüfung aller Dokumente, die bisher durch die Republik Südafrika übermittelt wurden, glaube ich, dass Südafrika diesen Fall gewinnen wird und ein Urteil gegen Israel gefällt werden wird, in dem Israel aufgefordert wird, den Völkermord zu beenden und alle Akte eines Völkermordes gegen Palästinenser zu unterlassen. Damit wird der Internationale Gerichtshof selbst, die höchste juristische Instanz im System der Vereinten Nationen, offiziell feststellen, dass ein Völkermord vorliegt. Und gemäß Artikel eins der Völkermordkonvention sind dann alle Vertragsparteien, 153 Staaten, verpflichtet, den Völkermord Israels an den Palästinensern zu ‚verhindern‘.
Zweitens: Wenn der Weltgerichtshof diese Unterlassungsanordnung gegen Israel erlässt, wird die Regierung Biden gemäß Artikel drei, Absatz (e) der Völkermordkonvention, der die Mitschuld am Völkermord kriminalisiert, ebenfalls verurteilt. Und wir wissen ganz klar, dass die Biden-Regierung den israelischen Völkermord an den Palästinensern seit geraumer Zeit unterstützt. Dies wurde auch von meinen Freunden im Center for Constitutional Rights und in der National Lawyers Guild in einer Klage gegen Biden, Blinken und Austin vorgebracht. Ich glaube also, dass wir die Anordnung des Weltgerichtshofs nutzen können.”[2]
Was Francis Boyle zu den USA sagte, galt natürlich auch für Deutschland. Das Problem in Deutschland ist jedoch, dass es keine so mutigen Anwälte und Anwaltsorganisationen gibt, welche es wagen, eine Klage gegen die Bundesregierung in einer so ernsten Frage auf den Weg zu bringen. Abschließend erklärte der Anwalt, dass das Gericht voraussichtlich eine Woche nach der Anhörung das Urteil verkünden werde. Leider, so musste man im Januar befürchten, dürfte dann bereits das blutige Werk Israels weitgehend vollendet sein. Den Rest würden Seuchen und Hunger besorgen. Die westlichen Regierungen hatten aber noch die Chance, es zu verhindern.
Diese Hoffnung war aber trügerisch. Der Meinung von Francis Boyle stand die Analyse von Norman Finkelstein entgegen, nach der jeder Richter des ICJ nur die Interessen der Nation vertreten wird, für die er nominiert wurde, weshalb der Ausgang ungewiss sei. Einerseits wegen des Einflusses der USA, andererseits weil Länder vermeiden möchten selbst auf der Anklagebank zu sitzen[3]. Für die Region konnte aber schon im Januar als sicher gelten:
Teile und herrsche verliert.
Die Vorzeichen hatten viele bemerkt. Der Iran legte seine Wasserstreitigkeiten mit Afghanistan bei und die Beziehungen zum Irak konnten trotz Anstrengungen interessierter Kreise nicht verschlechtert werden. Dann wurde innerhalb weniger Wochen die Erzfeindschaft zwischen dem Iran und Saudi-Arabien durch die Vermittlung Chinas beigelegt und in der Folge der Krieg Saudi-Arabiens gegen den Jemen. Syrien wurde wieder in die Gemeinschaft Arabischer Staaten aufgenommen und zwischen China und Indien gab es trotz erheblicher Bemühungen keine heißen Grenzstreitigkeiten. Sharmine Narwani veröffentlichte in der investigativen Internetseite The Cradle[4] zu dieser Phase in Bezug zu Gaza einen Artikel am 4. Januar.
Sie schrieb, dass nun ein endgültiger Befreiungsschlag folgen könnte. Mühsam aufgebaut Narrative, die dazu gedient hatten, Differenzen in Westasien auszunutzen, um Menschen aufeinander zu hetzen, Hass und Zwietracht zu sähen, um westliche außenpolitische Ziele zu verfolgen, diese Politik liege nun „in Trümmern“.
Schiiten gegen Sunniten, Iraner gegen Araber, Säkulare gegen Islamisten, das sei bisher erfolgreich genutzt worden. Es seien die hauptsächlichen Werkzeuge gewesen, mit denen der Westen versucht habe, die Bevölkerung zu kontrollieren und zu lenken, und die arabischen Herrscher sogar „in ein gottloses Bündnis“ mit Israel zu locken.
Aber die Fakten haben nun die Märchen zerstört, schreibt sie, und erklärt, dass es eines seltenen Konflikts bedurft habe. Eines Konfliktes, der unkontrolliert von Washington abgelaufen sei. Der aber nun ausreichen würde, um die westasiatischen Massen aus ihrer „narrativen Trance“ zu befreien. Und ich möchte darauf hinweisen, dass auch in Deutschland viele Menschen aus ihrer Märchenwelt brutal auf den Boden des genozidalen Herrschaftsanspruchs Israels gestürzt sein dürften.
Der mögliche Völkermord Israels in Gaza habe auch aufgezeigt, welche Araber und Muslime die Befreiung Palästinas tatsächlich unterstützten und welche eben nicht. Der Autorin zufolge sind der Iran, die Hisbollah, irakische Widerstandsgruppen und der Jemen die einzigen, die ernsthaft versuchen gegen die Massaker an Palästinensern vorzugehen. Sie seien von westlichen Verleumdungen verunglimpft worden aber erscheinen den Menschen der Region nun als die einzigen regionalen Akteure, die bereit sind, die Frontlinie im Gazastreifen zu unterstützen. Sie sind die einzigen, die sich, obwohl selbst nicht reich, mit Geld, Waffen und bewaffneten Zusammenstößen bemühen, die militärischen Ressourcen Israels zu verwässern, auch unter Inkaufnahme von eigenen Verlusten.
Die so genannten “gemäßigten Araber“, was eine falsche Bezeichnung für die westlich orientierten, autoritären arabischen Diktaturen sei, jene also, die sich den Interessen Washingtons unterordnen, hätten zu dem Gemetzel in Gaza kaum mehr als Lippenbekenntnisse abgegeben, stellt Narwani fest.
Die Saudis hätten zur Unterstützung aufgerufen, indem sie arabische und islamische Gipfeltreffen veranstalteten, die dann aber nichts tun und nichts sagen durften. Die Emirate und Jordanien hätten Nachschub nach Israel transportieren lassen, während die Ansarallah bzw. die jemenitische Regierung den Seeweg blockierte. Das mächtige Ägypten war Gastgeber von Delegationen, obwohl es nur den Rafah-Übergang gegen den Willen Israels hätte öffnen müssen, damit die Palästinenser essen können. Katar – einst ein wichtiger Geldgeber der Hamas – verhandelte über die Freilassung israelischer Gefangener und beherbergte gleichzeitig “gemäßigte” Hamas-Mitglieder, die mit den Freiheitskämpfern in Gaza im Streit lagen. Und der Handel der Türkei mit dem israelischen Besatzungsstaat schoss weiter in die Höhe (die Exporte stiegen zwischen November und Dezember 2023 um 35 Prozent).
Palästina sei für die pro-westlichen “gemäßigten Araber” ein sorgfältig gepflegtes Sonntagsredenthema, das sie aber privat sabotierten. So schauten sie heute wie gebannt und entsetzt auf das, was die sozialen Medien und zig Millionen Demonstranten kristallklar gemacht haben:
Palästina ist nach wie vor das wichtigste arabische und muslimische Anliegen; es mag schwanken, aber nichts habe die Kraft, die Massen in der Region so zu entflammen wie dieser spezielle Kampf zwischen Recht und Unrecht.
Der Wandel zum Widerstand
Der Kampf zwischen der Achse des Widerstands in der Region und den israelischen Verbündeten stehe noch ganz am Anfang, aber die Umfragen zeigten bereits eine bemerkenswerte Verschiebung der öffentlichen Meinung zugunsten des Widerstands. Eine arabische Umfrage, die über einen Zeitraum von sechs Wochen – drei Wochen vor und drei Wochen nach der Al-Aqsa-Flutung - also dem Angriff der Hamas am 7. Oktober – durchgeführt wurde[5], liefere den ersten Hinweis auf eine veränderte arabische Mehrheits-Wahrnehmung. Obwohl sich die Umfrage auf Tunesien beschränkte, argumentierten die Meinungsforscher, dass das Land ähnliche Ansichten wie andere arabische Länder repräsentiere.
Die Ergebnisse der Umfrage sollten für westliche Entscheidungsträger, die sich einmischen, von größter Bedeutung sein: Seit dem 7. Oktober habe jedes Land in der Umfrage, das positive oder sich erwärmende Beziehungen zu Israel unterhält, einen Rückgang seiner Beliebtheitswerte bei den Tunesiern zu verzeichnen. Die Beliebtheitswerte der USA sind am stärksten gesunken, gefolgt von den westasiatischen Verbündeten, die ihre Beziehungen zu Israel normalisiert haben. Bei Russland und China, beides neutrale Staaten, habe es kaum Veränderungen gegeben, während die Beliebtheitswerte der iranischen Führung stiegen. Laut dem arabischen Barometer:
„‚Drei Wochen nach den Anschlägen hat der iranische Oberste Führer Ali Khamenei Zustimmungswerte, die denen des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman und des emiratischen Präsidenten Mohammed bin Zayed entsprechen oder sie sogar übertreffen.‘
Vor dem 7. Oktober hatten nur 29 Prozent der Tunesier eine positive Meinung von Khameneis Außenpolitik. Diese Zahl stieg nach Abschluss der Umfrage auf 41 Prozent, wobei die Unterstützung der Tunesier in den Tagen nach dem Hinweis des iranischen Führers vom 17. Oktober auf Israels Vorgehen im Gazastreifen als ‚Völkermord‘ am stärksten war.“ [6]
Die saudische Wahrnehmung
Vor der Operation des palästinensischen Widerstands am 7. Oktober, bei der die Gaza-Division der israelischen Armee zerstört und Gefangene als Druckmittel für einen Gefangenenaustausch genommen wurden, so Narwani weiter, habe das geopolitische Hauptaugenmerk in der Region auf den Aussichten eines bahnbrechenden Normalisierungsabkommen zwischen Saudi-Arabien und Tel Aviv gelegen. Die Regierung von US-Präsident Joe Biden habe dies bei jeder Gelegenheit angetrieben; es sei als „goldene Eintrittskarte“ für seine bevorstehende Präsidentschaftswahl angesehen worden.
Doch die Operation Al-Aqsa-Flut habe Saudi-Arabien, das die heiligsten Stätten des Islams beherbergt, jede Chance genommen, dieses politische Abkommen zu schließen. Und mit den israelischen Luftangriffen, die täglich auf palästinensische Zivilisten im Gazastreifen niedergehen, schrumpften die Möglichkeiten Riads weiter.
Eine Umfrage des Washingtoner Instituts, die zwischen dem 14. November und dem 6. Dezember durchgeführt wurde, habe den seismischen Stimmungsumschwung in der saudischen Öffentlichkeit gemessen: Demnach hätten satte 96 Prozent der Aussage zugestimmt, dass “arabische Länder sofort alle diplomatischen, politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Kontakte mit Israel abbrechen sollten, um gegen dessen Militäraktionen in Gaza zu protestieren.”
Gleichzeitig seien 91 Prozent der Meinung, dass dieser Krieg in Gaza trotz der Zerstörung und des Verlustes von Menschenleben ein Sieg für Palästinenser, Araber und Muslime sei.
Narwani meint, dass dies eine schockierend einheitsstiftende Aussage für ein Land sei, das sich eng an westliche Narrative gehalten habe, die darauf abzielten, Palästinenser von Arabern, Araber untereinander und Muslime entlang konfessionellen, geografischen, kulturellen und politischen Linien zu spalten.
Obwohl Saudi-Arabien einer der wenigen arabischen Staaten sei, welche die Hamas als terroristische Organisation eingestuft haben, sei die Zustimmung zur Hamas um 30 Prozent gestiegen, von 10 Prozent im August auf 40 Prozent im November, während die meisten – 95 Prozent – nicht glauben, dass die palästinensische Widerstandsgruppe am 7. Oktober [absichtlich] Zivilisten getötet hat.
Demnach stimmten 87 Prozent der Saudis der Idee zu, dass “die jüngsten Ereignisse zeigen, dass Israel so schwach und innerlich gespalten ist, dass es eines Tages besiegt werden kann“. Ironischerweise sei dies eine seit langem geäußerte Meinung der Widerstandsachse. Der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, wurde nach der Niederlage Israels im Kampf gegen den libanesischen Widerstand am 25. Mai 2000 mit den Worten zitiert: “Israel ist schwächer als ein Spinnennetz“.
Vor dem 7. Oktober, so die Untersuchung weiter, hätten die Saudis wirtschaftliche Beziehungen zu Israel stark befürwortet, aber selbst diese Zahl sei von 47 Prozent im letzten Jahr auf 17 Prozent heute drastisch gesunken. Und obwohl die saudische Haltung gegenüber der Widerstandsachse nach wie vor negativ sei – schließlich sei Saudi-Arabien seit der Revolution von 1979 das regionale Epizentrum für Anti-Iran- und Anti-Schia-Propaganda -, mag das vor allem daran liegen, dass die Medien dort stark kontrolliert werden, schreibt die Autorin.
Im Gegensatz zu den Beobachtungen der arabischen Massen glaubten ursprünglich 81 Prozent der Saudis, dass die Achse “den Palästinensern nicht helfen will“. Was sich nun aber drastisch verändert habe. Dazu ein kurzer Einwurf: Iran gehört nicht zu den arabischen Ländern, sondern basiert auf einer alten Hochkultur, welche selbst einmal Teile der arabischen Welt beherrscht hatte, dann aber auch von dieser nicht nur überwältigt, sondern auch durch den Monotheismus dramatisch verändert wurde. Daher gibt es einen großen historisch bedingten Unterschied zwischen „Arabern“ und „Iranern“.
Es ist verfrüht, diese Analyse als endgültig zu betrachten, werden wir doch später in diesem Buch lesen, dass sich die Führung der Länder möglicherweise stärker durch Zuckerbrot und Peitsche der USA als durch seine Bevölkerung beeinflussen lassen.
Die palästinensische Wahrnehmung
Zurück zum Artikel von Narwani. Ebenso wichtig für die Diskussion über die arabischen Wahrnehmungen sei die Veränderung, die seit dem 7. Oktober unter den Palästinensern selbst zu beobachten sei. Die Autorin beruft sich dabei auf eine vom Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR) zwischen dem 22. November und dem 2. Dezember sowohl im besetzten Westjordanland als auch im Gazastreifen durchgeführte Umfrage, welche die arabischen Ansichten mit Nuancen widerspiegele.
Die Befragten im Gazastreifen haben verständlicherweise mehr Skepsis gegenüber der “Richtigkeit” der Hamas-Operation Al-Aqsa-Flut gezeigt, beschreibt die Autorin die Ergebnisse. Schließlich hatte der Angriff der Hamas den völkermörderischen Angriff Israels auf den Gazastreifen ausgelöst, bei dem bis Anfang Januar, also dem Zeitpunkt des Artikels, mehr als 22 000 Zivilisten – meist Frauen und Kinder – brutal getötet wurden. Während die Unterstützung für die Hamas im Gazastreifen nur geringfügig zugenommen habe, verdreifachte sie sich jedoch im Westjordanland, wobei in beiden palästinensischen Gebieten die Verachtung für die vom Westen unterstützte Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die von Ramallah aus regiert, fast gleichermaßen zum Ausdruck gekommen sei.
Die Unterstützung für den amtierenden Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmoud Abbas, und seine Fatah-Partei sei hart getroffen worden. Die Forderung nach seinem Rücktritt liege bei fast 90 Prozent, während fast 60 Prozent (der höchste Wert, der bisher in einer PSR-Umfrage zu diesem Thema verzeichnet wurde) der Befragten eine Auflösung der PA fordern.
Über 60 Prozent der befragten Palästinenser (im Westjordanland sind es sogar 70 Prozent) glauben, dass der bewaffnete Kampf das beste Mittel zur Beendigung der Besatzung sei. 72 Prozent stimmten der Aussage zu, dass die Hamas mit ihrer Operation vom 7. Oktober die richtige Entscheidung getroffen habe, und 70 Prozent sind der Meinung, dass es Israel nicht gelingen werde, den palästinensischen Widerstand im Gazastreifen vollständig zu eliminieren.
Die Palästinenser hatten demnach eine stark negative Meinung von den regionalen und internationalen Akteuren, die ihrer Meinung nach den Gazastreifen vor Israels beispiellosen Verstößen gegen das Völkerrecht ungeschützt gelassen haben, erklärt Narwani. Das von den Befragten bei weitem am meisten unterstützte Land sei der Jemen mit einer Zustimmung von 80 Prozent, gefolgt von Katar (56 Prozent), der Hisbollah (49 Prozent), dem Iran (35 Prozent), der Türkei (34 Prozent), Jordanien (24 Prozent), Ägypten (23 Prozent), den Vereinigten Arabischen Emiraten (8 Prozent) und Saudi-Arabien (5 Prozent).
In dieser Umfrage habe die Achse des Widerstands in der Region die Beliebtheitswerte dominiert, während die US-freundlichen arabischen und muslimischen Nationen, die ein gewisses Maß an Beziehungen zu Israel unterhalten, schlecht abschneiden. Es sei bemerkenswert, dass von den vier Ländern und Gruppen, die für die mehrheitlich sunnitischen Palästinenser am günstigsten sind, drei zu den Kernmitgliedern der “schiitischen” Achse gehören, während fünf sunnitisch geführte Staaten am schlechtesten abschneiden.
Diese palästinensische Sichtweise habe sich auch auf nicht-regionale internationale Staaten erstreckt, wobei die Befragten mit den Verbündeten der Widerstandsachse, Russland (22 Prozent) und China (20 Prozent), am zufriedensten sind, während die israelischen Verbündeten Deutschland (7 Prozent), Frankreich (5 Prozent), das Vereinigte Königreich (4 Prozent) und die USA (1 Prozent) bei den Palästinensern nur schlecht ankamen.
Narwani schloss daraus, dass drei separate Umfragen aufzeigen, dass sich die arabische Wahrnehmung des israelischen Krieges gegen den Gazastreifen dramatisch verändert habe. Die Stimmung in der Bevölkerung tendiere zu den Staaten und Akteuren, von denen man annimmt, dass sie die palästinensischen Ziele aktiv unterstützen, und weg von denen, von denen man glaubt, dass sie Israel unterstützen. Das neue Jahr beginne daher mit zwei wichtigen Ereignissen. Das erste sei der Abzug der israelischen Reservisten aus dem Gazastreifen, sei es auf Verlangen Washingtons, sei es wegen der untragbaren Verluste an Menschenleben und Verletzten bei den Besatzungstruppen. Das zweite ist die schockierende Ermordung des Hamas-Führers Saleh al-Arouri und sechs weiterer Personen in Beirut, Libanon, am 2. Januar.
Der Krieg weitet sich aus
Alles deute darauf hin, so die Einschätzung im Januar, dass Israels Krieg nicht nur weitergehen, sondern sich regional ausweiten werde. Das neue maritime Konstrukt der USA im Roten Meer habe andere internationale Akteure auf den Plan gerufen, und Tel Aviv habe die libanesische Hisbollah in erheblichem Maße provoziert.
Doch wenn die Konfrontation zwischen den beiden Achsen eskaliere, werde sich die arabische Wahrnehmung mit ziemlicher Sicherheit weiter von den alten Hegemonen weg in Richtung derjenigen verschieben, die bereit sind, sich diesem amerikanisch-israelischen Angriff auf die Region zu widersetzen. Es werde keine Erleichterung für Washington und seine Verbündeten geben, wenn sich der Krieg ausweite.
„Je mehr sie daran arbeiten, die Hamas zu besiegen und den Gazastreifen zu zerstören, und je mehr sie den Jemen, den Irak und Syrien mit Raketen beschießen und die Widerstandsachse belagern, desto wahrscheinlicher ist es, dass die arabische Bevölkerung die Narrative Sunniten gegen Schiiten, Iraner gegen Araber und Säkulare gegen Islamisten, die die Region jahrzehntelang gespalten und zerstritten gehalten haben, aufgibt. Die Welle der Unterstützung, die durch eine gerechte Konfrontation mit den größten Unterdrückern der Region mobilisiert wird, ist unaufhaltsam.“[7]
Pfeifen im Wald?
War die Analyse von Narwani Wunschdenken, oder das Pfeifen im Wald, um sich selbst Mut zuzusprechen, bevor es zu einem neuen großen Regionalkrieg kommt, der wieder unermessliches Leid über die Bevölkerungen bringen wird? Und nicht nur über die im Nahen und Mittleren Osten. Sondern diesmal werden auch und besonders die europäischen Länder betroffen sein. Denn die „Achse des Widerstandes“ kann die wichtigsten Seewege zur Versorgung Europas blockieren, oder zumindest durch explodierende Versicherungsprämien und große Umwege, die Transportkosten und -zeiten sehr drastisch negativ beeinflussen. Zu einer Zeit, da die deutsche Wirtschaft europäisches Schlusslicht war, sowieso schrumpfte, und Deutschland verzweifelt nach Geld im Inland suchte, um es als „Vasallenabgabe“, wie manche Kritiker sagten, in die Ukraine zu schicken, wäre die Ausweitung dieses Krieges nicht gelegen gekommen.