Aufruf jüdischer Intellektueller

 

Aufruf jüdischer Intellektueller

Im Mai wurde ein offener Brief namhafter jüdischer und israelischer Wissenschaftler veröffentlicht, dem sich inzwischen hunderte angeschlossen haben. Hier der Wortlaut, der am 15. Mai, also zwei Tage vor dem Bundestagsentscheid, in den Palästina Nachrichten veröffentlicht worden war:

»Wir, jüdische und israelische Wissenschaftler, von denen viele in den Bereichen jüdische Geschichte und Antisemitismus forschen, äußern unsere Besorgnis über den Anstieg des Antisemitismus auf der ganzen Welt, auch in Deutschland. Wir betrachten alle Formen von Rassismus und Fanatismus als eine Bedrohung, die bekämpft werden muss, und ermutigen die Bundesregierung und den Bundestag dazu.

Gleichzeitig möchten wir auf die zunehmende Tendenz, Unterstützer palästinensischer Menschenrechte als Antisemiten abzustempeln, als alarmierenden Trend hinweisen. Zurzeit spitzt sich dieser Trend in Deutschland zu. Zwei deutsche Parteien, die FDP und die AfD, haben im Bundestag Anträge eingebracht, die die Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) mit Antisemitismus gleichsetzen. Die Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD bereiten einen gemeinsamen Antrag vor, der dies ebenfalls tut. Diese Vermischung ist falsch, inakzeptabel und eine Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Ordnung in Deutschland.

Die Unterzeichner dieser Erklärung haben zu BDS unterschiedliche Meinungen: Einige mögen BDS unterstützen, andere lehnen es aus verschiedenen Gründen ab. Wir alle lehnen jedoch die trügerische Behauptung ab, dass die BDS-Bewegung als solche antisemitisch sei, und wir verteidigen das Recht jeder Person oder Organisation, sie zu unterstützen.

Israel und die internationale Gemeinschaft bestanden darauf, dass die Palästinenser keine Gewalt anwenden, wenn sie sich gegen die Besatzung ihres Landes und die anhaltende Diskriminierung und Unterdrückung der sie ausgesetzt sind, wehren. BDS ist grundsätzlich eine gewaltfreie Bewegung, die gegen schwere Menschenrechtsverletzungen protestiert. Die BDS-Bewegung setzt sich nicht für eine bestimmte politische Lösung des Israelisch-palästinensischen Konflikts ein. Stattdessen setzt sie sich für die Umsetzung des Völkerrechts ein, oft im Hinblick auf die Besatzung und Siedlungen Israels. Die Bewegung äußert sich eindeutig über ihre kategorische Ablehnung 'aller Formen von Rassismus, einschließlich Antisemitismus'. Viele jüdische und israelische Gruppen unterstützen BDS entweder ausdrücklich oder verteidigen das Recht, es zu unterstützen. Man kann über BDS diskutieren und damit nicht einverstanden sein, aber eine kategorische Delegitimierung solcher gewaltfreien Mittel ist falsch und kontraproduktiv.

Wir fordern alle deutschen Parteien auf, keine Anträge vorzulegen und zu unterstützen, die BDS mit Antisemitismus gleichsetzen. Insbesondere fordern wir die Parteien der demokratischen Mitte, FDP, CDU und SPD, dazu auf, ihre Beschlussvorschläge entsprechend anzupassen.

Weiter fordern wir alle deutschen Parteien dazu auf, NGOs, die BDS unterstützen, nicht von deutscher Förderung auszuschließen. Wie von der Europäischen Union bestätigt, sind Erklärungen und Maßnahmen im Zusammenhang mit BDS durch die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit geschützt, wie sie in der Charta der Grundrechte der EU verankert ist.

Unter den über 100 palästinensischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die den BDS-Aufruf unterzeichnet haben, sind angesehene Menschenrechtsorganisationen, Berufsverbände von Anwältinnen und Ingenieuren, Komitees von Landwirten und Gesundheitspersonal, Lehrergewerkschaften und Behindertenverbände. Es sei sehr nachteilig für die palästinensische Gesellschaft insgesamt und für die Rolle und das Ansehen Deutschlands, wenn diese Organisationen von der deutschen Finanzierung ausgeschlossen würden – nur wegen der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung und ihrer Entscheidung, sich der immer tiefergreifenden israelischen Besatzung mit friedlichen Mitteln zu widersetzen.

Wenn sie ausgeschlossen würden, würde dies zu einer weiteren Schwächung der gesamten  palästinensischen Gesellschaft beitragen, die bereits einen schweren Schlag erlitten hat, als die US-Regierung ihre Unterstützung der Palästinenser eingestellt hat – eine Entscheidung, die Europa  bedauert.

Darüber hinaus stigmatisiert eine Entscheidung des Bundestages, die palästinensisch geführte BDS-Bewegung mit Antisemitismus gleichzusetzen, die palästinensischen Bürger Deutschlands und hindert sie daran, ihre Meinung, ihre Trauer und ihr Leid frei zu äußern. Dies könnte sie und andere Gruppen in der deutschen Gesellschaft und anderswo vom Kampf gegen den Antisemitismus entfremden, anstatt sie dafür zu gewinnen.

Die Gleichsetzung von BDS und Antisemitismus wird von der am weitesten rechts stehenden Regierung in der Geschichte Israels gefördert. Es ist Teil der ständigen Bemühungen, jeden Diskurs über palästinensische Rechte und jede internationale Solidarität mit den Palästinensern, die unter militärischer Besatzung und schwerer Diskriminierung leiden, zu delegitimieren.

Wir fordern Sie auf, Antisemitismus und alle Formen von Rassismus zu bekämpfen, ohne diese böswilligen Bemühungen zu unterstützen. Wir bitten Sie, die freie Meinungsäußerung und demokratische Räume in Deutschland zu schützen, anstatt diejenigen zu isolieren und zum Schweigen zu bringen, die ihre politischen Überzeugungen gewaltfrei zum Ausdruck bringen [1][2]


Klage gegen BDS-Beschluss

Im Umfeld des BDS-Beschlusses des deutschen Bundestages wurden verschiedene Maßnahmen durch Beamte und Organisationen ergriffen, die das Grundgesetz als entleerte Hülle erkennen lassen. So wurde zum Beispiel in München ein Stadtratsbeschluss gefasst, keine öffentlichen Räume an BDS-Aktivisten zu vermieten.

Der renommierte Journalist Andreas Zumach schließt sich der Meinung an, dass ein solcher Beschluss, aber auch und besonders die Entscheidung des deutschen Bundestages, die BDS-Bewegung als antisemitisch zu brandmarken und zu diskriminieren, um solche Beschlüsse zu erleichtern, gegen das Grundgesetz verstößt. In einem Interview erklärt er auch warum.

»Es gibt zwar keine staatliche Zensur, wie wir das aus alten Zeiten kennen. Aber es gibt eine etablierte politische Sprachregelung, wonach BDS antisemitisch sei. Wir haben seit dem 17. Mai eine entsprechende Beschlusslage des Bundestages. Einige Landtage und städtische Gremien haben ähnliches verabschiedet. Das alles ist zwar juristisch für niemanden verbindlich, aber politisch hat das enormes Gewicht.

Im Rahmen des Evangelischen Kirchentages in Dortmund kam es zum ersten Vorfall, der das zeigte. Ein Workshop der Rosa-Luxemburg-Stiftung wurde kurzfristig mit Verweis auf mutmaßliche BDS-Nähe einzelner Teilnehmer untersagt. Ich empfehle der Stiftung dringend, jetzt zu klagen, und zwar gegen den Bundestagsbeschluss.« [3]

Zumach der selbst kein Unterstützer der BDS-Bewegung ist, erklärte, dass er die Einschränkung der Grundrechte für unannehmbar halte. Außerdem führte er aus, dass er kein anderes Thema kenne »bei dem so systematisch gelogen und manipuliert wird«.

Zumach bemängelte, dass auf politischer Ebene mit schwammigen Arbeitsdefinitionen der Internationalen Allianz für Holocaustgedenken hantiert werde. Das würde es ermöglichen, Kritiker der völkerrechtswidrigen Politik Israels als Antisemiten zu diffamieren.

Was versteckt sich hinter dieser Arbeitsdefinition?

»Laut Arbeitsdefinition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken ist Antisemitismus eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.« [4]

Nach dieser Definition kann jede Kritik an der Arbeitsdefinition von Antisemitismus auch Antisemitismus sein. Das ist eine Verklausulierung, wie sie in totalitären Staaten gewählt wird, weil mit solchen Definitionen die Feinde nach Lust und Laune bekämpft werden können. Wenn man weiter sucht, wie es zu einer solchen Definition kam, sollte man prüfen, zu welchem Zweck denn die »Internationale Allianz für Holocaust-Gedenken« gegründet wurde, und welchen weitergehenden Zweck die Organisation verfolgt. Der Blog von Reiner & Judith Bernstein gibt einen Einblick:

»Zu unserer tiefen Besorgnis sehen wir diese Vermischung auch in der offiziellen Ankündigung der Konferenz durch die österreichische Regierung. Dort heißt es: 'Antisemitismus findet seinen Ausdruck sehr oft in übertriebener und unverhältnismäßiger Kritik am Staat Israel.'

Diese Worte geben die Antisemitismusdefinition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) wieder. Mehrere Beispiele für zeitgenössischen Antisemitismus, die sich der Definition anschließen, beziehen sich auf harsche Kritik an Israel. Im Ergebnis kann die Definition gefährlich instrumentalisiert werden, um Israel Immunität gegen Kritik an schwerwiegenden und verbreiteten Menschen- und Völkerrechtsverletzungen zu verschaffen – Kritik, die für legitim erachtet wird, wenn sie sich gegen andere Länder richtet. Das schreckt jedwede Kritik an Israel ab.

Die Ankündigung setzt außerdem Antizionismus mit Antisemitismus gleich. Wie allen modernen jüdischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts widersetzten sich jedoch auch dem Zionismus viele Jüdinnen und Juden heftig, ebenso wie nicht-Juden, die nicht antisemitisch waren. Zahlreiche Opfer des Holocaust waren gegen den Zionismus. Es ist unsinnig und unangemessen, Antizionismus automatisch mit Antisemitismus gleichzusetzen.«

Ob bewusst oder unbewusst: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages versuchen mit der Resolution, die möglicherweise sogar zu einem Gesetz mutieren soll, Israels Verbrechen immun gegen Kritik und Sanktionen zu machen. Damit nehmen sie bewusst in Kauf, dass sie die Palästinenser als Opferlämmer behandelt werden, welche auf dem Altar des deutschen schlechten Gewissens und der deutschen Selbstbemitleidung geschlachtet werden.




[1] »Aufruf von Jüdischen und israelischen Wissenschaftler an Deutsche Parteien zu 'BDS'«, Mai 2019, https://de.scribd.com/document/410140639/Aufruf-von-Judischen-und-israelischen-Wissenschaftler-an-Deutsche-Parteien-zu-BDS 

[2] PN: »Jüdische und israelische Wissenschaftler fordern Bundestag auf, BDS nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen«, Palästina Nachrichten, 15. Mai 2019, https://palaestina-nachrichten.de/2019/05/15/juedische-und-israelische-wissenschaftler-fordern-bundestag-auf-bds-nicht-mit-antisemitismus-gleichzusetzen/

[3] Marc Bebenroth: »Widerstand gegen Zensurversuche - »Es muss über BDS geredet werden können««, Junge Welt, 29. Juni 2019, https://www.jungewelt.de/artikel/356866.widerstand-gegen-zensurversuche-es-muss-%C3%BCber-bds-geredet-werden-k%C3%B6nnen.html

[4] Deutscher Bundestag: »Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten –   Antisemitismus bekämpfen«, 15. Mai 2019, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/101/1910191.pdf