Israels Kriegskabinett

 

Israels Kriegskabinett

Am 17. Juni wird bekannt, dass Premierminister Netanjahu das aus sechs Ministern bestehende Kriegskabinett auflöste, nachdem der ehemalige General Benny Gantz seinen Austritt erklärt hatte.

The New Arab berichtet[1], dass Netanjahu nun voraussichtlich mit einer kleinen Gruppe von Ministern, darunter Verteidigungsminister Yoav Gallant und dem „Strategischen“ Minister Ron Dermer, die schon dem Kriegskabinett angehörten, Konsultationen über den Krieg seines Landes in Gaza abhalten werde. Netanjahu war mit Forderungen der rechtsextremen nationalistisch-religiösen Partner in seiner Koalition konfrontiert gewesen, Finanzminister Bezalel Smotrich und den „Nationalen Sicherheitsminister“ Itamar Ben-Gvir, in das Kriegskabinett aufzunehmen, was Spannungen mit internationalen Partnern, darunter den Vereinigten Staaten, verschärft hätte.

„Smotrich und Ben-Gvir haben sich vehement für den Krieg in Gaza ausgesprochen und die jüdische Umsiedlung des Gazastreifens, die Erschießung von Frauen und Kindern und eine ‚totale Vernichtung‘ des Gebiets gefordert. Beide Minister haben außerdem gedroht, Netanjahus Kabinett zu verlassen, wenn ein Waffenstillstand in Gaza die Freilassung palästinensischer Gefangener beinhaltet.“[2]

Das Kriegskabinett war am 11. Oktober gegründet worden, nachdem Gantz zu Beginn des Krieges gemeinsam mit Netanjahu eine Regierung der nationalen Einheit gebildet hatte. Als Beobachter, so der Artikel, waren auch Gantz‘ Partner Gadi Eisenkot und Aryeh Deri, Vorsitzender der religiösen Partei Shas, beteiligt.

Israels „Pearl Harbour“?

Am 17. Juni wird der Vorwurf gegen die israelische Regierung wiederholt, welche schon direkt nach dem 7. Oktober bekannt gewesen war. Nämlich dass nicht nur Warnungen von ausländischen Geheimdiensten, sondern auch vom Israelischen Geheimdienst durch die Regierung Netanjahu bewusst unbeachtet gelassen wurden, sondern sie noch Maßnahmen beschloss, welche das Gegenteil von dem war, was der Geheimdienst vorgeschlagen hatte.

Die Times of Israel berichtet, dass ein Dokument, das von der Einheit 8200 des militärischen Geheimdienstes der IDF weniger als drei Wochen vor dem 7. Oktober zusammengestellt worden war, davor gewarnt hatte, dass die Hamas für eine groß angelegte Invasion Israels trainiere, bei der massenhaft Geiseln genommen werden sollten. Erstmals habe der öffentlich-rechtliche Sender Kan unter Berufung auf ungenannte Sicherheitsquellen darüber berichtet.

„Erschreckenderweise wird in dem Dokument vom 19. September - das ignoriert wurde - die Zahl der Geiseln auf 200 bis 250 geschätzt. Während des tatsächlichen Angriffs am 7. Oktober wurden 251 Geiseln genommen und 1.200 weitere getötet, zumeist Zivilisten. In dem detaillierten Dokument wurden eine Reihe von Übungen der Elitetruppen der palästinensischen Terrorgruppe beschrieben, die Angriffe auf israelische Städte und Militärposten übten, einschließlich der Frage, wie Soldaten und Zivilisten als Geiseln genommen werden können, wenn sie wieder im Gazastreifen sind, und unter welchen Bedingungen sie getötet werden können.“[3]

Der Artikel berichtet natürlich von „Terrorgruppen“, aber auch, dass das Dokument hochrangigen Geheimdienstmitarbeitern bekannt war, zumindest in der Gaza-Division. Allerdings hatten die Regierung und hochrangige Militärs bisher behauptet, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht vor einer geplanten Invasion gewarnt worden seien, obwohl auch von ausländischen Diensten durchgesickert war, dass der Angriff bekannt war. Nicht zuletzt seien die Vorbereitungen der Kämpfer sogar in pro-palästinensischen Fernsehsendungen berichtet worden.

Außerdem hätte sich die militärische Führung der Gaza-Division vor dem 7. Oktober nur darauf vorbereitet, dass höchstens ein Dutzend von Hamas-Kämpfern die Grenze möglicherweise an drei verschiedenen Stellen überwinden könnten. Tatsächlich waren es am 7. Oktober angeblich 3000.

Diese immer wieder aufflammende Diskussion, auch ausgelöst durch israelische Angehörige von Geiseln, zusammen mit dem Eindruck, dass das Kriegskabinett die Geiseln lediglich als Begründung für Massaker und Krieg benutzt, statt sie durch Verhandlungen unbeschadet zu befreien, erzeugt zunehmend Druck auf die Regierung.

In der Jerusalem Post wird am 17. Juni auch noch einmal das Thema aufgewärmt[4], weil neue Dokumente zum Vorschein gekommen sind. Die Zeitung schreibt schon im Titel, dass die IDF „WUSSTE“, dass die Hamas plante, 250 Menschen zu entführen. Der Artikel meint sogar, dass die IDF „präzise“ Informationen über die Absichten der Hamas gehabt habe.

Ein neu aufgetauchtes Dokument habe enthüllt, dass die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) und Geheimdienste Wochen vor dem Massaker vom 7. Oktober detaillierte Kenntnisse über den Plan der Hamas hatten, Israel zu überfallen und 250 Menschen zu entführen. Vermutlich handelt es sich um das gleiche Dokument, von dem wir schon weiter oben hörten. Es sei in der Gaza-Division erstellt worden, und auch hier wird noch einmal betont, dass es den höchsten Geheimdienstmitarbeitern bekannt gewesen sei. Aber auch die Jerusalem Post bezieht sich in erster Linie auf einen Bericht von Kan News.

„Das Dokument mit dem Titel „Detailliertes End-to-End-Überfalltraining“ wurde am 19. September 2023 verteilt und beschrieb detailliert die Reihe von Übungen, die von den Eliteeinheiten der Hamas durchgeführt wurden. Zu diesen Übungen gehörten Überfälle auf Militärposten und Kibbuzim (Siedlungen in Israel und den besetzten Gebieten), die Entführung von Soldaten und Zivilisten sowie die Geiselnahme im Gazastreifen. In dem Bericht von Kan News heißt es: ‚Sicherheitsquellen teilten Kan News mit, dass das Dokument der Geheimdienstleitung, zumindest in der Gaza-Division, bekannt war.‘ Die Enthüllungen des Dokuments erfolgten im Gefolge weitverbreiteter Kritik an der mangelnden Vorwegnahme und Verhinderung des Angriffs vom 7. Oktober, der zu zahlreichen Opfern und Geiseln führte.“[5]

Warnsignale seien nicht beachtet worden. Der Bericht habe ausgeführt, dass israelische Geheimdienstmitarbeiter die Übung überwachten und die Schritte dokumentierten, die die Hamas nach dem Eindringen in israelisches Territorium und der Übernahme von Militärposten zu unternehmen plante. Diese Informationen, zusammen mit einer neuen und hochentwickelten Sicherheitsbarriere, die zwei Jahre vor dem Angriff fertiggestellt wurde, sollten einen solchen Angriff angeblich unwahrscheinlich machen. Allerdings habe die Barriere während des Hamas-Angriffs versagt, was auf ein erhebliches Versäumnis der Geheimdienste und der Sicherheit hinweise. Das Untersuchungsteam des Generalstabs werde dem Stabschef voraussichtlich in den kommenden Wochen erste Ergebnisse dieses Versagens vorlegen, da das Land zu verstehen versuche, wie es trotz detaillierter Vorkenntnisse der Pläne zu einem solchen Sicherheitsversagen kommen konnte.

Und Israel kommt weiter unter Druck, weil Mitte Juni die Methoden bekannt wurden, mit denen Israel weltweit Menschen von Organisationen einschüchtert, welche es wagen, eine kritische Eintellung zu Israel zu verfolgen.

Die Komplizen des Staates

Seit Monaten werden auch im Juni 2024 Hilfslieferungen für Gaza systematisch behindert, zerstört. Wenn nicht durch Angriffe des Militärs, dann durch Zivilisten. Jonathan Ofir schreibt darüber am 18. Juni in Mondoweiss[6], dass die Mittäterschaft am Völkermord nicht auf die israelische Rechte beschränkt sei. Mitglieder einer liberalen Organisation zum Beispiel, die im vergangenen Jahr die Anti-Netanjahu-Proteste anführte, blockieren nun humanitäre Hilfe für Gaza.

Der Artikel ergänzt die Erkenntnisse, welche bereits die Interviews von Abby Martin aufzeigten, nämlich dass sich in den letzten Jahren die Mehrheit der Gesellschaft immer weiter radikalisiert hat und durch die systematische Entmenschlichung der Palästinenser über Jahrzehnte, selbst zu rassistischen Extremisten wurden.

Der Autor berichtet, dass die Frage, ob Israelis humanitäre Hilfe für Gaza physisch blockieren, in den letzten Monaten in den Mainstream-Medien behandelt wurde. Im März habe Clarissa Ward von CNN über israelische Rechtsaktivisten berichtet, die versuchten, die Übergänge nach Gaza zu blockieren, wo humanitäre Hilfe zusammen mit Leichen transportiert wurde. Ward hatte die Behauptungen der Demonstranten widerlegt, die Reissäcke seien mit Munition gefüllt worden, sondern sie erklärte, dass die Gaza-Bewohner verhungern würden – vergeblich.

Am 14. Juni habe die Biden-Regierung selektive Sanktionen gegen die wichtigste Organisation verhängt, welche die Hilfe blockierte: „Tzav 9“ – was „Befehl 9“ bedeutet und auf den Einberufungsbefehl für die israelische Militärreserve anspielt. Dann zitiert der Artikel den Sprecher des Außenministeriums Matthew Miller:

„Monatelang haben Einzelpersonen von Tzav 9 wiederholt versucht, die Lieferung humanitärer Hilfe nach Gaza zu verhindern, unter anderem indem sie auf ihrer Route von Jordanien nach Gaza, auch im Westjordanland, manchmal gewaltsam Straßen blockierten … Wir werden keine Sabotageakte und Gewalttaten dulden, die sich gegen diese lebenswichtige humanitäre Hilfe richten … Wir werden weiterhin alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die solche abscheulichen Taten versuchen oder begehen, und wir erwarten und fordern, dass die israelischen Behörden dasselbe tun.“[7]

Aber die in dieser Äußerung der US-Regierung implizit vertretene Vorstellung, dass „Tzav 9“ die einzigen Übeltäter seien, denen die Schuld zu geben sei, sei höchst irreführend. Die Blockierung humanitärer Hilfe werde nicht nur von diesen Aktivisten unterstützt – es sei die israelische Regierung, die die Hungersnot als Waffe gegen die gesamte Bevölkerung Gazas einsetze, stellt der Autor fest. Hunger sei ein wesentlicher Teil des Völkermords.

In ihrem Bericht habe Clarissa Ward richtig festgehalten, dass eine kürzlich durchgeführte Umfrage des Israeli Democracy Institute ergab, dass 68 % – über zwei Drittel – der jüdischen Israelis humanitäre Hilfe für Gaza ablehnen. Die Umfrage wies tatsächlich auf 80 % unter rechtsgerichteten Wählern (die etwa 2/3 der Bevölkerung ausmachen) hin. Und es habe keine Rolle gespielt, ob Hamas und UNRWA von der Hilfeleistung ausgeschlossen wurden – die Befragten waren trotzdem dagegen. Mit anderen Worten, die Demonstranten von „Tzav 9“ seien nur die Spitze des Eisbergs.

Tatsächlich habe sich diesen rechtsgerichteten Aktivisten jetzt eine weitere bemerkenswerte Gruppe angeschlossen: Kibbuzniks, die ebenfalls mit ihren Körpern die humanitäre Hilfe für Gaza blockieren.

Die Kibbuz-Gesellschaft in Israel sei typischerweise für ihre linksgerichtete sozialistische Ader bekannt. Was ich bestätigen kann, war ich doch vor 52 Jahren kurz davor gewesen, ein Jahr dort zu verbringen. Aber seit ihrer Gründung war und sei sie maßgeblich an der israelischen Kolonialmacht und Apartheid beteiligt. Wie der Vorsitzende der Kibbuz-Bewegung, Nir Meir, kürzlich sagte, und der Autor zitiert ihn: „Die Siedler liegen nicht falsch. Die Rechten haben recht: So erobert und hält man Land, und ihre Behauptung, dass die Araber an unsere Stelle kommen werden, egal wohin wir Israelis gehen, ist richtig. Auch die Rechte hat mit ihrem Weg recht: Souveränität kann durch Siedlungen, und nur durch Siedlungen durchgesetzt werden.“

Ofir erklärt dann weiter, dass am am 16. Juni die israelische zentristische Tageszeitung Maariv berichtet habe, dass nun Videos von Kibbuzmitgliedern im Umlauf seien, die ebenfalls humanitäre Hilfe blockierten. Das eingebettete Video zeige zwei Männer aus dem Kibbuz Sdeh Boker (eigentlich Ben-Gurions Kibbuz), die Aktivisten der „Koah Kaplan“ seien, ein Teil der „Kaplan Force“, der Organisation, die gegen die derzeitige Regierung protestiert.

Die Organisation ist nach der Kaplan Street in Tel Aviv benannt, wo die wichtigsten Demonstrationen stattgefunden haben. Das Maariv-Video, das laut Maariv möglicherweise aus dem Februar stammt, zeige, wie die Kibbuzmitglieder Lastwagen am Grenzübergang Kerem Shalom nach Gaza blockieren, und „Tsav 9“ hat bestätigt, dass die „Kaplan Force“ in den letzten Monaten an den Bemühungen beteiligt war, Hilfe zu blockieren.

Dann zitiert der Artikel Aussagen der Aktivisten aus dem Video:

„Ich bin Boaz Sapir vom Kibbuz Sdeh Boker, ich bin hier, um eine klare Botschaft zu überbringen … die Botschaft ist, dass es kein Rechts oder Links gibt, dass alle Entführten lebend zurückkehren müssen. … Ich bin Gilad Shavit vom Kibbuz Sdeh Boker, zusammen mit Boaz … Ich komme, um die Botschaft zu überbringen, dass die Entführten dem gesamten Volk Israel gehören, dass das gesamte Volk Israel die Entführten zurückgeben will, aber die Regierung hat das für einen Moment vergessen. Das ist nicht möglich – wir werden der Hamas keine [humanitäre] Hilfe leisten, solange die Entführten nicht zurückgegeben werden – das ist unsere Botschaft.“[8]

Genau diese Botschaft sei auch schon zu Beginn des Völkermords von dem Mann geäußert worden, der kürzlich zum Vorsitzenden der israelischen Arbeitspartei gewählt wurde – Yair Golan. Golan sei von links zur Arbeitspartei gekommen, nachdem er Teil der Meretz-Partei war, die es bei den Wahlen im November 2022 nicht in das Parlament geschafft hatte. Am 13. Oktober habe sich Golan direkt dafür ausgesprochen, die Gaza-Bewohner auszuhungern, und er zitiert ihn mit den Worten:

„Zunächst einmal muss der gesamte Strom nach Gaza unterbrochen werden. Ich denke, in diesem Kampf ist es verboten, humanitäre Hilfe zuzulassen. Wir müssen ihnen sagen: Hört zu, bis die [Gefangenen] freigelassen werden, könnt ihr von unserer Seite aus verhungern. Das ist völlig legitim.“[9]

In seinem Bericht stelle Maariv dann die offensichtliche Frage: „Wird die amerikanische Regierung Sanktionen gegen Aktivisten der ‚Kaplan Force‘ verhängen?“ Und der Autor antwortet, dass die Biden Regierung keine Bewegung sanktionieren wird, welche die israelische „Demokratie“ vertrete, oder die „Pluralität“ in Israel beweise. Biden wolle mit symbolischen Gesten davonkommen, wie im März, als er vier Siedler sanktionierte, „die den Frieden, die Sicherheit oder die Stabilität des Westjordanlandes bedrohen“, meint der Autor, und verweist auf Rashid Khalidi, Professor an der Columbia University, der bemerkte:

„Es ist ein bisschen so, als ob man ein loderndes Feuer entfacht, eine Tasse Wasser darauf gießt und gleichzeitig Benzin liefert, um die Flammen anzufachen … Ein paar Personen zu sanktionieren, die Teil eines Siedlungsvorhabens sind, das seit 56 Jahren von der israelischen Regierung unterstützt wird, ist an und für sich absurd. Entweder man sanktioniert den milliardenschweren Treiber dieser Sache, nämlich die israelische Regierung und amerikanische steuerfreie Spenden, oder man tut nicht so, als sei man gegen Siedlungen.“[10]

Der Artikel vertritt die Meinung, dass Israel als Ganzes diesen Völkermord begeht. Aber statt ihn zu verhindern, greife Biden nur die leicht zu erreichenden Ziele rechtsextremer Akteure an, eine symbolische Tat, während er seine Politik der unerschütterlichen Unterstützung des israelischen Völkermords fortsetze.

Die israelischen Kibbuzniks, die von liberalen Demokraten oft als das Beste der israelischen Gesellschaft dargestellt würden, unterscheiden sich nicht von „Tzav 9“, wenn es darum gehe, lebensrettende Hilfe für Palästinenser in Gaza zu blockieren. Und ihre Worte und Taten zeigen, wie völkermörderisch die israelische Gesellschaft als Ganzes ist.

Man sollte hinzufügen, dass ganz zu Beginn der Bewegung mindestens ein Kibbuz existierte, welcher auch Palästinenser als gleichberechtigte Mitglieder angesehen hat. Der Kibbutz Be'eri, hatte in den späten 1960er Jahren begonnen, Palästinenser in seine Gemeinschaft aufzunehmen und ihnen gleiche Rechte zu gewähren. Das Ziel war es, durch gemeinsames Leben und Arbeiten die verschiedenen Gemeinschaften zusammenzubringen und ein Modell für friedliche Koexistenz zu schaffen. Es hatte auch einen gewissen Erfolg und wurde international bekannt.

Der Versuch konnte sich aber nicht durchsetzen auf Grund der gegensätzlichen Politik aller israelischen Regierungen und so wurde der Kibbuz in den späteren 1970er Jahren ein ganz traditioneller Kibbuz, in dem nur noch jüdische Israelis leben.

Drohen, Erpressen, uns Sonstiges

Das Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP) e.V. veröffentlichte im Juni 2024 eine Zusammenfassung von drei Fällen israelischer Korruption, Propaganda und Spionage.

An anderer Stelle hatte ich bereits auf den Film von Al Jazeera hingewiesen, der die „Arbeit“ der Aipac in den USA beschreibt, aber nicht in den USA gezeigt werden durfte[11]. Der Artikel bezieht sich auf eine andere Dokumentation, auch von Al Jazeera, nämlich  den Film „The Lobby“, in dem über israelische Spionage in Großbritannien aufgeklärt wird, und der tatsächlich auch illegale Spionageoperationen beweisen soll[12].

„Die Verwendung israelischer Spionagesoftware (siehe BIP-Aktuell #240[13]) zur Förderung dessen, was Suraya Dadoo als "Spionagediplomatie"[14] bezeichnet - d.h. die Belohnung autoritärer Regime, die Israel unterstützen, indem Israel ihnen gefährliche Spionagewerkzeuge gegen die politischen Gegner dieser autoritären Regime zur Verfügung stellt - ist ein weiteres Beispiel für solche Aktivitäten, die seit Jahren bekannt sind. BIP hat auch über die israelische Desinformationsindustrie berichtet, die Werkzeuge zur Beeinflussung von Wahlen in Ländern auf der ganzen Welt anbietet (siehe BIP-Aktuell #248)[15].“[16]

Der Artikel führt aus, dass mehrere der illegalen israelischen Kampagnen auch im Frühjahr 2024 aufgedeckt worden seien, und dass sie Spionage, Korruption und Propaganda aufzeigen würden. Die Nutzung der Instrumente des Mossad oder anderer israelischer Geheimdienste zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung habe für die Betroffenen äußerst negative Folgen. Diese Aktionen seien nicht nur illegal, sondern könnten zur Verhaftung israelischer Regierungsmitarbeiter und zu internationalen Sanktionen führen, wenn sie nicht durch die entsprechenden Regierungen unter den Teppich gekehrt werden.

Nicht nur die öffentliche Meinung in betroffenen Ländern würde negativ gegenüber Israel beeinflusst, wenn es nicht gelingt, die Medien zum Stillschweigen zu bringen, sondern die Verbreitung von Desinformationen untergrabe die Glaubwürdigkeit der Medien und der öffentlichen Einrichtungen und fördere die Verbreitung von Verschwörungstheorien und Extremismus.

Dann kommt der Artikel auf den vermutlich wichtigsten Fall zu sprechen. Die Bedrohung der Anklägerin des IStGH in Den Haag[17]. Der ehemalige israelische Mossad-Chef Yossi Cohen hatte eine Operation gegen das Gericht und insbesondere die Chefanklägerin Fatou Bensouda geführt. Außerdem setzte Israel Spionagesoftware ein[18] um sechs palästinensische Organisationen auszuspionieren, und sie wegen angeblichen Terrorismus zu verleumden, ohne reale Beweise dafür zu haben.[19] Sie waren in den Fokus gerückt, weil sie dem Gericht Beweise für Kriegsverbrechen Israel geliefert hatten. Die Tatsache, dass Israel das erfuhr, beweist, dass auch Bensouda ausspioniert worden war. Yossi Cohen persönlich habe dann eine illegale Operation in der Demokratischen Republik Kongo (DRC) durchgeführt, indem er sich den Privatjet des israelischen Milliardärs Dan Gertler auslieh, der die Kobaltminen in der DRC monopolisiert. Gertler half Cohen, ein Treffen mit dem ehemaligen Präsidenten der DRK, Joseph Kabila, zu arrangieren. Der Haaretz-Artikel darüber[20] ist nicht mehr verfügbar. Cohen habe die Gelegenheit benutzt, Fatou Bensouda, die sich in Kinshasa aufgehalten hatte, in einem Raum „aufzulauern“, um sie einzuschüchtern, und sie für den Fall der Ermittlungen gegen die israelische Regierung bedrohte[21].

Israel habe sich dann beim damaligen US-Präsidenten Trump für die Aufhebung[22] der Sanktionen gegen den Milliardär Dan Gertler eingesetzt, um ihn für seine Unterstützung der Operation zu belohnen. Als der Präsident der Demokratischen Republik Kongo, Tshisekedi, erfuhr, dass der Chef des Mossad sich hinter seinem Rücken mit seinem politischen Gegner trifft, habe er befürchtet, dass Israel einen Staatsstreich plante, und Cohen des Landes verwiesen.[23]

Der Artikel stellt dann lakonisch fest, dass Fatou Bensouda den IStGH vor ihrem Ausscheiden aus dem Amt im Jahr 2021 nie um die Ausstellung von Haftbefehlen gebeten hatte. Ihr Amt wurde von Karim Khan übernommen, der drei Jahre lang die von palästinensischen Organisationen vorgelegten Beweise unbearbeitet ließ, bis er schließlich am 20. Mai 2024 Haftbefehle gegen Netanjahu, gegen seinen Verteidigungsminister Galant und drei Führer der Hamas beantragte.

Karim Khan hatte wohl Gründe davor zu warnen, dass Staaten den IStGH einschüchtern könnten und deutete an, dass er durch israelische Spionage betroffen war.

Dann kommt der Artikel zu der zweiten Verleumdungskampagne mit schwerwiegenden Folgen. Und zwar war diesmal das Ziel wieder der Zeuge eines Verfahrens vor einem internationalen Gericht gegen Israel, die UNRWA. Allerdings ging es nicht nur darum, einen Zeugen zu verleumden, sondern auch gleich den Völkermord in Gaza zu beschleunigen, indem überlebenswichtige Hilfslieferungen blockiert wurden.

„Israel hat nicht nur unbegründete Anschuldigungen gegen die UNRWA öffentlich[24] verbreitet und damit die größten Geldgeber der UNRWA (USA, Deutschland und andere westliche Staaten) veranlasst, die Finanzierung auszusetzen, sondern auch Künstliche Intelligenz eingesetzt, um in den sozialen Medien eine Armee gefälschter Avatare zu schaffen, die die  Entscheidungsträger[25] in den USA mit Lügen über die UNRWA beeinflussen sollten.“[26]

Nachdem diese Kampagne öffentlich wurde, sei eine zweite Ebene der Desinformationskampagne durch investigativen Journalismus aufgedeckt worden[27]. Die israelischen Nachrichtendienste hatten farbige Gesetzgeber in den USA mit einer Kampagne ins Visier genommen, in der islamfeindliche Botschaften verbreitetet wurden. Sie behaupteten, Araber seien Sklavenhändler gewesen, die die Sklaverei eingeführt hätten. Die gleichen Überwachungsmethoden, die gegen Palästinenser erprobt wurden, um falsche Informationen zu platzieren, seien nun gegen US-Parlamentarier eingesetzt worden.

Der letzte Fall von illegaler Einflussnahme, über den BIP berichtet, wurde in Großbritannien aufgedeckt. Die Zeitung Declassified fand heraus[28], dass 174 der 650 untersuchten britischen Parlamentsmitglieder Gelder von Israel erhalten haben. Das sei eine Beeinflussungskampagne, die die Untersuchung von Al-Jazeera aus dem Jahr 2017 in den Schatten stelle. Die Finanzierung sei in verschiedenen Formen erfolgt, z. B. durch teure politische Veranstaltungen zur Förderung pro-israelischer Botschaften, kostenlose Reisen nach Israel, um Treffen mit Soldaten zu arrangieren und pro-israelische Propaganda zu hören, sowie Wahlkampfspenden.

Hunger als Mordwerkzeug

Im Juni tauchen Berichte auf, dass Israel gezielt Polizisten bzw. Sicherheitskräfte tötet, welche die sichere Verteilung der Hilfslieferungen organisieren sollten. Begründung natürlich: Bewaffnete Terroristen. Und natürlich verursachte das ein Chaos, niemand verteilte, niemand organisierte. Die Folge: Die UN sagt, dass Gesetzlosigkeit in Gaza die Hilfslieferungen unmöglich macht, obwohl Israel eine „militärische Pause“ eingelegt habe[29].

Zu den hunderten von humanitären Helfern, welche von Israel gezielt getötet wurden, kamen dutzende von Sicherheitskräften. So wird Hunger als Mordwerkzeug unterstützt. Und das setzt die Regierung international immer stärker unter Druck.

Zunehmende Isolation

Eigentlich ist es erstaunlich, wie wenige Länder bisher diplomatische Schritte gegen Israel unternommen haben. Bolivien und Kolumbien haben nichts mehr zu verlieren, was die US-Sanktionen gegen ihre Länder angeht, und so konnten sie relativ leicht die Beziehungen zu Israel abbrechen. Chile, Jordanien und Brasilien haben immerhin ihre Botschafter abberufen und eine gewisse Souveränität bewiesen. Die Türkei erklärt, sie habe die wirtschaftliche Zusammenarbeit eingestellt, was aber z.B. in Hinsicht auf strategisch wichtige Lieferungen wie z.B. Öl, für das die Türkei Transitland ist, bestritten wird.

Das war es nach 10 Monaten offensichtlichen Völkermord in Gaza? 

Waren die Bilder von Toten, Verletzten und Hungernden Zivilisten, sowie die völlige Verwüstung des Gazastreifens noch nicht erschütternd genug? Und dabei sind in einigen Ländern Massenproteste, die Israel anprangern und ein Ende seines blutigen Krieges gegen Gaza fordern, zur wöchentlichen Realität geworden; Kundgebungen und Zeltlager auf Universitätsgeländen sind zu einem alltäglichen Phänomen geworden, obwohl sie mit aller Härte und unglaublichen Konsequenzen für manche Studenten verbunden sind, die an die schlimmste Zeit der McCarthy-Ära erinnert.

Trotzdem sieht Elizabeth Blade in RT eine zunehmende Isolation Israels.[30] Wie kann das übereinstimmen?

Sie meint, die Unzufriedenheit mit Israels Politik komme nicht nur von den Massen. In den letzten Monaten hätten sich auch die Führungen verschiedener Staaten dem Chor der antiisraelischen Stimmung angeschlossen. Dann berichtet sie, was wir oben schon feststellten, Maßnahmen einer Handvoll Länder.

„Auch europäische Staaten haben sich zu Wort gemeldet. Norwegen, Spanien, Irland und Slowenien haben Palästina bereits als Reaktion auf Israels anhaltenden Angriff anerkannt; und weitere Länder versprechen, dasselbe zu tun, und senden damit die Botschaft an Israel, dass es isoliert wird, wenn es seine derzeitige Politik gegenüber den Palästinensern nicht einstellt. Kritik kommt auch von Staaten zu hören, die Israel im Allgemeinen unterstützen, wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland und die USA, deren Staats- und Regierungschefs bereits angedeutet haben, dass ihre Geduld langsam zu Ende geht.“[31]

Nach fast 9 Monaten geht die Geduld langsam zu Ende? Hört sich das nicht fast nach Satire an?

Sie schreibt dann, wie Israel trotzig 2023 zu einem Rekordjahr für den Siedlungsbau im Westjordanland und die Anerkennung illegaler Außenposten gemacht hat. Und im Jahr 2024, so berichtet sie, haben die israelischen Behörden den Bau von 3.400 neuen Wohneinheiten in dem umstrittenen Gebiet genehmigt; außerdem wurde eine neue Rekordmenge an Land im Westjordanland zum Staatseigentum erklärt.

Sie bezieht sich auf einen israelischen Exdiplomaten, Dr. Alon Liel, der glaube, dass Israels Ansehen gefährdet sein könnte. „Es hängt alles davon ab, wie es weitergeht“, habe er gesagt. „Wenn diese Kritik in den nächsten Monaten anhält, wird die Situation sehr ernst. Sie könnte nicht nur Israels Image und sein internationales Ansehen schädigen, sondern auch den internationalen Status Palästinas aufwerten.“ Wobei letzteres so etwas wie Weihwasser für den Teufel ist.

Dann aber erklärt sie, dass Rolene Marks, Sprecherin der South Africa Zionist Federation, behauptet, es wäre „übertrieben zu sagen, dass Israel in der Welt negativ wahrgenommen wird. Wir können nicht pauschal behaupten, dass Israel isoliert ist“, habe sie gesagt. „Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt eine phänomenale Unterstützung [für Israel] und obwohl viele Länder dem Staat gegenüber kritisch eingestellt sind, haben wir bisher keine größeren Brüche in den internationalen Beziehungen erlebt“.

„‘Einer der Gründe dafür‘, sagt sie, sei das Verständnis der Welt, ‚mit wem Israel es zu tun hat‘, und meint damit die Hamas, die von vielen internationalen Akteuren als Terrororganisation eingestuft wird. Ein weiterer Grund dafür könnte die Erkenntnis sein, dass Israel ‚ein starkes wirtschaftliches und technologisches Kraftpaket‘ ist – das für ihren eigenen Erfolg notwendig ist. ‚Wenn diesen Ländern die Palästinenser wirklich am Herzen lägen, hätten sie sich lauter geäußert, als die Palästinenser gegen die Hamas protestierten oder als sie 2013 im Lager Jarmuk vergast wurden‘, sagt Marks. ‚Die Kommentare und Taten dieser Länder werden von ihren eigenen politischen Agenden bestimmt. Einer unserer Verbündeten befindet sich beispielsweise gerade mitten in einem Wahlzyklus. Andere haben riesige muslimische Gemeinden, die sie nicht enttäuschen wollen. Öffentliche Äußerungen gegenüber den Medien sind also eine Sache, was hinter verschlossenen Türen passiert – eine andere.‘“[32]

Die Aurin bezieht sich dann auf Daten des israelischen Statistikamtes, die zeigen, dass die Exporte der Mittel- und Hochtechnologiebranchen im Jahr 2024 um 4,8 % gestiegen sind. Die Importe von Konsumgütern um 13,9 %. D.h. auch die Aktionen des Jemen, die versuchen, eine Art Blockade gegen israelische Häfen zu verhängen, sind dank der Gegenmaßnahmen der umliegenden, arabischen Länder, nicht so eindrucksvoll, wie man das erwartet hätte.

Auch die militärische Zusammenarbeit zwischen Israel und anderen Staaten habe einen Aufschwung erfahren. Das israelische Verteidigungsministerium gab am Montag bekannt, dass sich seine Exporte innerhalb von fünf Jahren verdoppelt haben und über ein Drittel aller Verträge im Jahr 2023 unterzeichnet wurden, darunter für Raketen, Flugkörper und Luftabwehrsysteme, erklärt der Artikel.

Aber wir hatten ja auch schon gesehen, dass sich die gesamte NATO an der Abwehr eines vom Iran angekündigten Vergeltungsschlages versammelt hatten, um eine weltweit einzigartige und am besten gesicherte Luftabwehr zu realisieren.

Dann berichtet sie von Gesprächen der höchsten Militärs von Bahrain, den VAE, Jordanien und Saudi-Arabien über eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Israel. Also drei Diktaturen helfen der „einzigen Demokratie“ der Region, die möglichen sicherheitspolitischen Folgen des Völkermordes in Gaza zu meistern.

Das Problem sei, meint die Autorin, dass Generäle und Regierungen sehr oft nicht die Stimmung der breiten Öffentlichkeit widerspiegeln; und diese Öffentlichkeit scheine seit Beginn des Krieges gegenüber Israel feindseliger geworden zu sein. Aber welchen Einfluss haben Menschen in Diktaturen auf die Politik?

Sie erwähnt dann aktuelle Umfragen. Denen zufolge lehnen 68 % der Befragten in Saudi-Arabien die Idee einer Anerkennung Israels ab. Ähnliche Ansichten wurden demnach in Marokko und im Sudan geäußert, wo die Ablehnung bei 78 bzw. 81 % lag. Auch in Europa und den USA loderten die antiisraelischen Flammen. Und was ist das? Natürlich „Antisemitismus“!

„Seit Oktober haben wir einen wahnsinnigen Anstieg des Antisemitismus erlebt. ‚Es hat einen Siedepunkt erreicht und brodelt jetzt über‘, sagt Marks. ‚Es ist an der Zeit, dass die Staats- und Regierungschefs der Welt etwas dagegen unternehmen.‘“[33]

Für Liel liege die Lösung jedoch nicht in den Händen der Staats- und Regierungschefs. Der Schlüssel, liege in den Händen der israelischen Politiker und ihrer Politik. „Alles, was sie tun müssen, ist, den Plan des UN-Sicherheitsrates zu akzeptieren [der die Rückkehr der Geiseln und die Einstellung der Feindseligkeiten voraussetzt – Anm. d. Red.], die Ausweitung der Siedlungen zu stoppen und [Handeln], um Angriffe der Siedler auf die Palästinenser zu verhindern“, zitiert der Artikel.

Als zeitgenössischer Beobachter reibt man sich die Augen und fragt sich: „Soll Israel wirklich davonkommen, im 21. Jahrhundert einen Völkermord und ethnische Säuberungen vornehmen zu können, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden?“

Möglicherweise wird die Hisbollah es nicht zulassen. Am 19. Juni erschien in den Medien ein Video, welches von einer libanesischen Drohne gefilmt wurde, und Einzelheiten im Hafen von Haifa zeigt.[34] Manche sehen es als Warnung an Israel an, den Libanon nicht anzugreifen, weil die Hisbollah sonst Haifa zerstören könnte. Es könnte aber m.E. auch eine Art Provokation sein, um eine Reaktion Israels zu erzeugen, welche die Hisbollah dann als Legitimation nimmt, um Israel für den Völkermord in Gaza „zu bestrafen“.

In Twitter / X -Live-Diskussionen wurde darüber gerätselt, warum Israel den Libanon noch nicht massiv angegriffen hat. Man kam zu dem Schluss, dass Netanjahu es nur wagen wird, wenn die USA helfen. Aber dann, so hat Iran klar zu verstehen gegeben, werde sie auch nicht untätig bleiben, und der Flächenbrand der Region wäre sichergestellt. Sicher erfreulich für Netanjahu, aber mit möglicherweise verheerenden Folgen für Israel. Denn kein Land in der Region hat mehr zu verlieren, im Fall einer massiven kriegerischen Auseinandersetzung mit den vom Iran maßgeblich beeinflussten Widerstandskräften in der Region.



[2]Ebd.

[5]Ebd.

[7]Ebd.

[8]Ebd.

[9]Ebd.

[10]Ebd.

[31]Ebd.

[32]Ebd.

[33]Ebd.